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Hans Werner Henze - Eine Sinfonie wie ein Portrait

Im Einführungstext zu Nr. 10 sprechen Sie von der ungewöhnlichen Rolle, die Simon Rattle bei der Entstehung Ihrer neuesten Sinfonie gespielt hat - Rattle stand hier sozusagen Modell? mehr...

Los Caprichos – Henzes Orchesterfantasie nach Goya

I've put in so many enigmas and puzzles that it will
keep the professors busy for centuries.
James Joyce

 
I.
"Komponiert auf 9 Radierungen aus der gleichnamigen Gesellschaftssatire Goyas (1796/98)", (Henze 1996b, S. 242) dies und nur dies verrät das Henzesche Werkverzeichnis über Los Caprichos. Fantasia per orchestra und bestätigt, was jeder, dem der Titel Los Caprichos aus der Kunstgeschichte bekannt vorkommt, sich hat denken können und sollen: dass es sich bei Henzes Orchesterfantasie um Musik zu den Grafiken Goyas handele. Solches zu vermuten legt auch die Partitur selber nahe, die durch Doppelstriche in neun Abschnitte gegliedert wird, denen allen neben der Tempoangabe und einer Vortragsanweisung ein in Anführungszeichen stehender spanischer Satz vorangestellt ist. Bei diesen Sätzen handelt es sich – wie herausfindet, wer die Partitur mit Goyas Zyklus vergleicht – um die Bildlegenden jener Grafiken, die für den jeweiligen Abschnitt die bildnerische Vorlage abgegeben haben werden. Weitere Anmerkungen zu seinem Werk macht Henze nicht, weder in Form eines Vorwortes, eines Tagebucheintrages oder eine Bemerkung in der Autobiografie – einzig in den Essays findet sich im Text "Castelli Romani" die Orchesterfantasie neben den anderen Werken des Jahres 1963 aufgelistet und mit einer die gesamte Gruppe betreffenden Erläuterung versehen. Diese aber stammt nicht von Henze selber, sondern er lässt Goethes Dialog "Der Sammler und die Seinigen" für sich über den Zusammenhang von Liebe und künstlerischem Schaffen sprechen.

Bei der in der Partitur angedeuteten und im Werkverzeichnis konkret benannten bildnerischen Vorlage, Los Caprichos, handelt es sich um einen Zyklus von 80 Druckgrafiken, den der spanische Maler Francisco Goya zwischen 1796 und 1799 schuf und – da der Inhalt der Stiche anstößig und für den Urheber gefährlich, aber ebenso zu weiter Verbreitung und Wirksamkeit gedacht war – eigenhändig auf einem Dachboden in einer Anzahl von über 20 000 Blatt vervielfältigte. 1799 trat Goya mit diesen Caprichos an die Öffentlichkeit und konnte genau 27 Exemplare davon verkaufen, bevor er sich durch das wachsende Interesse der Inquisition an seiner Person genötigt sah, den Verkauf einzustellen und alle Abzüge samt den zur Vervielfältigung nötigen Druckplatten der königlichen Kunstsammlung zu schenken – was sie zwar vor der Zerstörung, aber auch auf Jahrzehnte vor jeder öffentlichen Wirksamkeit bewahrte. Der Grund dieser Schwierigkeit ist jedem Betrachter offensichtlich: So zeigt etwa Nummer 55 die herrschende Regentin – zudem die Arbeitgeberin Goyas, da dieser seit 1799 Hofmaler war –, karikiert als zahnlose Vettel, wie sie in Unterwäsche vor einem Spiegel sitzend sich mit eitler Geste eine Haube anprobiert. Hinter ihr steht lachendes und lästerndes Gefolge. Andere Stiche demaskieren die Priesterschaft – Nummer 52 zeigt eine inbrünstig betende Frau vor einer Vogelscheuche im Priestergewand; die Bildlegende, die Goya allen Stichen beifügt, lautet hier: "Was ein Schneider alles vermag" – oder den Adel, der meist in Eselsgestalt dargestellt wird. Hierin besteht das eigentliche Verfahren Goyas, menschliche Eigenheiten so zu überspitzen, dass sie ins Tierische, Groteske oder Monströse umschlagen. Zu diesem Zwecke zitiert er das gesamte Pandämonium des Volksaberglaubens herbei – Schwarze Männer, Hexen, Kobolde und seltsamste Tier-Mensch-Zwitterwesen –, die jedoch nicht dem üblichen Furchteinflössen solcher Höllendarstellungen dienen, sondern umgekehrt in ausgesprochen aufklärerischer Absicht solche Phantasmen als Projektionen menschlicher Verhaltensweisen entlarven sollen. So zeigt Nummer 49 eine Gruppe von Kobolden beim Zechgelage, gekleidet sind sie in die Kutten (der zu Goyas Zeit in keinem guten Ruf mehr stehenden) Mönche; die Bildlegende der Skizzen-Version lautete noch ganz unverblümt: "Die wahren Kobolde sind die Mönche". Andere Stiche karikieren die Sexualmoral der Zeit in Gestalt mehrerer als gerupfte Hühnchen dargestellter Männer, die von Prostituierten mit einem Besen aus dem Bordell gekehrt, oder auf einen Bratspieß gesteckt über kleiner Flamme geröstet werden. Mit einigem Recht kann man also sagen, dass es sich bei den Caprichos um eine der schärfsten, pointiertesten und in ihren darstellerischen Mitteln extremsten Satiren der Kunstgeschichte handelt.

Wer den Henze der späten 60er-, der 70er- und 80er-Jahre kennt, der mit Enzensberger und Bond zusammengearbeitet und seine Kunst bewusst in den Dienst gesellschaftlicher und sozialkritischer Anliegen gestellt hat, der erwartet von der Vertonung einer solchen Vorlage natürlich einiges. Umso erstaunlicher fällt das Ergebnis einer ersten Bestandsaufnahme aus, welche der 80 Grafiken Goyas Henze für sein Stück ausgewählt hat: So zeigen allein vier der neun Stiche Szenen aus dem Liebesleben von Damen und Herren der höheren spanischen Gesellschaft in konventioneller Darstellung. Von Goyas Grotesken bleiben nur zwei sehr gemäßigte Darstellungen eines Albtraumes und eines Hexenrittes und vom kritischen Potenzial einer pointierten Karikatur der Herrschenden, des Volksaberglaubens oder der individuellen Korruption durch Geld, Geilheit oder Standesdünkel bleibt eigentlich gar nichts. Auch die Art der Komposition macht es schwer, eine konkrete Beziehung zwischen Bildinhalten und Musik herzustellen. Dies beginnt bei der Tatsche, dass Henze für die Vertonung kleinformatiger Grafiken, die als gezeichnete Pamphlete zur Massenverbreitung gedacht waren, im übertragenen Sinne gesprochen, zu breitem Pinsel und großformatiger Leinwand, sprich, zu einer 20-minütigen Symphonischen Dichtung für spätromantisches Riesenorchester und reich besetztes Schlagwerk greift. Von den im Bild zu sehenden Motiven und Situationen, Maskerade, Hochzeit, Gericht, wird kaum etwas in die einschlägigen klanglichen Chiffren übersetzt. Und so kommt Peter Petersen in seiner Besprechung der Caprichos zu dem Schluss: "Der Komponist malt nicht etwa die Bildaktionen in Klängen nach, sondern er reagiert auf das Dargestellte bzw. Gemeinte." (Petersen 1988, S. 210) Für das letzte Bild konstatiert Petersen gar einen nur noch in der Subjektivität des Komponisten begründeten, für den Außenstehenden nicht mehr nachvollziehbaren Zusammenhang: "Hier nun wird die Selbständigkeit des Komponisten gegenüber dem Motivgehalt der Bilder vollends deutlich. [...] Es ist offenkundig, daß diese Haltung nicht mehr im Bild selbst, sondern nur noch in Kopf und Herz der Autoren [Henze/Goya; d. Verf.] festgemacht werden kann." (Petersen 1988 S. 211) Deutlich negativer fällt die Bewertung desselben Sachverhalts im Urteil von Monika Fink aus, Henze habe an der Vorlage schlicht "vorbeikomponiert", die weichen, teils spätromantischen, teils impressionistischen Klangwirkungen stünden Goyas hartem Strich geradezu entgegen und eine Deutung sei "nur mit einem Kommentar des Komponisten möglich" (Fink 1988, S. 103/104).[1]

In welchen anderen Zusammenhängen – wenn sie nicht im Bild selber liegen – man denn nach den Beweggründen der Komposition zu forschen hätte, dafür liefert Henzes Essay "Musik als Resistenzverhalten" (1964)[2] einen ersten Hinweis:

"Was ich komponiere, ist im Grunde ein einziges Werk, das einmal vor fünfzehn Jahren begonnen wurde und das irgendwann enden wird – die Anfänge und die Schlüsse der einzelnen Werke sind nur scheinbar. Vielleicht, so dürfte man, bescheidener, auch sagen, liegt der Anfang fünf- oder sechshundert Jahre zurück. Zwischen dem einen und dem anderen Stück liegen Zeitspannen, die man nur insofern als Pausen bezeichnen kann, als in ihnen keine Musik niedergeschrieben wird." (Henze 1976, S. 96)

Wollte man diese Behauptung, dass es sich bei seinen Stücken im Prinzip um ein Werk handele, wörtlich nehmen, so müsste dies zumindest bedeuten, dass die in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu dieser Äußerung entstandenen Stücke irgendetwas gemeinsam haben. Für die von Henze in den Essays explizit zu einer Gruppe zusammengefassten Werke des Jahres 63 ist eine solche Gemeinsamkeit in der Tat nicht schwer zu finden: Sie alle haben ein gemeinsames Sujet, welches das Wesen der Liebe und der Schönheit zum Gegenstand hat. Bei Being Beauteous nach Rimbaud und bei der Cantata della Fiaba estrema nach einem Liebesgedicht von Elsa Morante ist dieser Bezug bereits aus dem Titel bzw. der literarischen Vorlage ersichtlich; für die Ariosi nach Torquato Tasso teilt Henze uns im Vorwort mit, dass die "Geschichte einer imaginären Liebe, oder genauer, Reflexionen über das Ende einer Liebe" (Edition Schott 5037) hier der Gegenstand sei; während er im Vorwort der Lucy Escott Variations über ein Thema von Bellini die Fiktion einer unerfüllten Liebe der Protagonistin zu dem Komponisten ihrer Lieblingsarie entwirft. Bleibt als letztes Stück des Jahres (Datum der Fertigstellung in der Partitur: 27.12.63) Los Caprichos – vergleicht man dies dem Notentext nach mit den vorangegangenen Werken, so macht man folgende Entdeckung: Es handelt sich nicht etwa um eine Originalkomposition nach Grafiken von Goya, sondern um die Bearbeitung und auf weiten Strecken schlicht um die Instrumentation der bereits im September des Jahres 63 abgeschlossenen Lucy Escott Variations für Cembalo.[3]

Dieses Werk weist nun aber durchaus nicht in Richtung auf Goyas satirische Schärfe und Entfesselung des Grotesken in aufklärerischer Absicht, sondern sympathisiert im Gegenteil mit dem sentimentalen Idealismus der italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts. Bezüglich der Klavierfassung spricht Henze von der "unvergleichlichen klassizistisch-sizilianischen Atmosphäre" des Themas – Bellinis "Come per me sereno" aus La Sonnambula (1831) – sowie von einem "romantisch angelegten Klaviersatz" mit "schwärmerischen, betont unmodernen Ausdruck" (Henze 1996b, S. 340). Ganz aus diesem emotionalen Klima heraus inszeniert er im Vorwort eine ins Phantastische tendierende literarische Fiktion: Quasi dokumentarisch beginnend mit der Erwähnung eines Theaterzettels des Londoner Drury Lane Theaters um 1820, auf dem die (historische) Person der Lucy Escott erwähnt werde, gleitet Henzes Erzählung hinüber in die Fiktion von deren schwärmerischer Verliebtheit in den Komponisten Bellini, dessen Tod und der Sublimation und langsamen Aufzehrung ihrer Stimme und ihrer ganzen Person bis zur schließlichen Verwandlung in eine Flussnymphe.

Der Hofbiograf von Henzes frühen Jahren, Klaus Geitel, berichtet zur Vorgeschichte und inneren Motivation der Werke des Jahres 63 von der Erschütterung des Künstlers angesichts des bei einem New-York-Aufenthalt im Mai besichtigten Elendsviertels Harlem. Er deutet die Geschwindigkeit der Produktion als "Entfesselung" angestauter Energien und spricht von "[...] einer Lawine von Werken, schwarzen Stücken, Klagerufen; ein ,Actus Tragicus‘ der Verzweifelung und Empörung, der Trauer". (Geitel 1968, S. 112) Weitaus launiger – aus dem Abstand dreier Jahrzehnte – berichtet Henze selber in den "Autoboigraphischen Mitteilungen" von einer ganz anderen Ursache seelischer Erschütterung infolge einer Begegnung mit "[...] einem New Yorker Sohn der Lüfte, einem Menschenkind von ungewöhnlicher Schönheit, so überwältigend, daß mir daran die größten und albernsten persönlich-seelischen Schwierigkeiten erwachsen sollten, durch die das Kartenhaus eines geordneten und glücklichen Privatlebens patscha, patscha mit Getös zusammenfiel". (Henze 1996a, S. 228) Letzteres geht zumindest deutlich eher in die Richtung des allen Werken des Jahres 63 gemeinsamen Sujets sowie des von Henze dieser Werkgruppe zur Erläuterung beigegebenen Goethe-Textes: "Wer fühlt lebhaft ohne den Wunsch das Gefühl darzustellen? und was stellen wir den eigentlich dar was wir nicht erschaffen? und zwar nicht ein für allemal, sondern damit es wirke immer wachse und wieder werde und hervorbringe? Das ist ja eben die göttliche Kraft der Liebe, von der man nicht aufhört zu singen [...]." (zitiert nach Henze 1976, S. 90) [4]

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II.
Vor die Tatsache gestellt, dass es sich bei der Orchesterfantasie ,nach Goya‘ gar nicht um eine Originalkomposition handelt, sondern um die Bearbeitung eines in einen ganz anderen Kontext gehörenden zeitlich benachbarten Werkes, ergeben sich zwei mögliche Bewertungen: Erstens, es handelt sich um einen Etikettenschwindel, eine eilig hingeworfene Schreibarbeit zur zeitigen Erfüllung eines anstehenden Auftrages (Los Caprichos ist ein Auftragswerk des WDR), bei der Goya nur zur Tarnung dient, oder, zweitens, es steckt ein besonderes Anliegen hinter der eigenartig-widersprüchlichen Vorlagenvermengung. Dann wäre die Fortführung der Escott-Variations das eigentliche Ziel hinter der Bearbeitung zur Orchesterfantasie[5], und es sollte sich zeigen lassen, dass Henze versucht, die beiden disparaten Vorlagen, die eigenen Variationen auf das Thema Bellinis und Goyas Grafiken, miteinander in Beziehung zu setzen. Ein erster Vergleich beider Stücke enthüllt zumindest so viel: Sämtliche neun Bilder der Orchesterfantasie haben in irgendeiner Form mit den Escott-Variations zu tun, allerdings in sehr unterschiedlichem Grade. Dies reicht von der nahezu völligen Neukomposition (Bilder drei und sechs), bei der nur Fragmente der Vorlage in einzelne Stimmen des Orchestersatzes übernommen werden, über die Verwendung des kompletten Tonvorrates der Escott-Variations, der aber durch ein neues Arrangement eine komplett andere Klanggestalt erhält (Bilder eins, zwei und sieben), bis zur reinen Orchestrierung der Vorlage (Bilder vier, fünf, acht und neun).

Synopsis[6]
CaprichosTabelle

Die Musik des ersten Bildes (T. 1 – 50) ist im Wesentlichen aus zwei heterogenen Elementen zusammengesetzt. Henzes Bearbeitungstechnik der musikalischen Vorlage ist dabei äußerst frei. So übernimmt er zwar sämtliche vorkommenden Töne, arrangiert sie aber so um, dass aus einem rein pianistischen Bewegungsspiel mit gleichmäßigen Vierteln in der linken und einslosen 16tel-Sextolen in der rechten Hand eine romantische Orchestereinleitung mit lang gehaltenen Orgelpunkten und sehnsüchtigen Melodiefetzen der Holzbläser wird. Das Vorspiel der Escott-Variations, ein quasi-barockes Präludium, das zum großen Teil auf Pentatonik basiert, wird dabei von Henze für die Bearbeitung in zwei Teile, T. 1 – 24 und T. 34 – 50, zerschnitten. In die Mitte zwischen diese beiden pentatonisch gefärbten und auf die Escott-Variations gegründeten Abschnitte setzt er als kontrastierendes Element eine für Los Caprichos neu hinzukomponierte, polytonale Klangfläche (T. 25 –33). Die Bildlegende der Grafik, die Henze für diesen aus so disparaten musikalischen Materialien und Vorwürfen zusammengesetzten Abschnitt gewählt hat, lautet denn auch: "Sie erkennen einander nicht". Goyas Radierung zeigt ein Paar, beide sind maskiert, die sich direkt in die Augen gucken, ohne doch voneinander zu wissen.

Das zweite Bild (T 51 – 93) bringt die Hauptsache eines jeden Variationensatzes, die Vorstellung des Themas. Für die Escott-Variations hat Henze eine verdichtete Version der Bellinischen Arie geschaffen, die Elemente verschiedener Formabschnitte der Vorlage auf engem Raum komprimiert: Der Nachsatz des Themas und der kontrastierende B-Teil werden gestrichen (von Letzterem bleibt nur eine bei S. 4, A. 4, Viertel 3 – 6 eingeblendete Begleitfigur), das Akkompagnement in gebrochenen Dreiklängen und Septakkorden, das bei Bellini erst mit der Wiederholung des A-Teils einsetzt, übernimmt Henze von Anfang an als tragendes Element. Leiterfremde Störtöne und die wenig schulmäßige Stimmführung rücken die Harmonik zudem in ein herberes, moderneres Licht.

Weitaus gravierender sind die Veränderungen, denen Henze seine Version des Themas dann im Übergang von den Escott-Variations zu Los Caprichos unterzieht: Die Begleitung der Escott-Variations wird in den Caprichos anfangs noch zitiert – allerdings verwandelt zu einem durch die Instrumentation bedrohlich klingenden vierstimmigen Hörnersatz in tiefer Lage. Das Bellinische Thema wird hier schon bei seiner ,Vorstellung‘ jeder Gestaltqualität beraubt, seine Töne einschließlich der Verzierungen werden zu einer (diatonischen) Reihe verwandelt, deren Veränderungen (nach Art der Reihenkomposition behandelt, also frei in Rhythmisierung und Oktavlage der Töne) von nun an die Basis der Variationen bilden.

La Sonnambula, "Come per me sereno", Klavierauszug T. 3 – 6

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Lucy Escott Variations, Seite 4, Akkolade 1

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Los Caprichos, T. 54 – 67, 1. Viol.

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Umso bemerkenswerter ist es, dass Henze auch in der neu komponierten, modalen bzw. frei atonalen Musik der Caprichos auf die formalen Vorgaben der Bellinischen Vorlage eingeht. So wechselt die Orchestertextur nach neun Takten der Reihe (T. 54 – 62) vom vierstimmigen Hörnersatz zu einer lichten Klangfläche von Holzbläsern und Streichern (T. 63 – 67). Vergleicht man an dieser Stelle Instrumentation und Gliederung der Caprichos-Musik mit Bellinis Arie, so kann man feststellen, dass aller Verwandlung zum Trotz ihre gliedernden Wechsel mit den Phrasengrenzen (und dem harmonischen Wechsel von der Subdominante zur Dominante) der zu Grunde liegenden Melodie zusammenfallen – die musikalische Struktur der Orchesterfantasie aus dem Jahre 1963 reflektiert die 132 Jahre alte Belcanto-Arie. Die Legende der Grafik, die Henze diesem Abschnitt zuordnet, lautet: "Gleich und gleich gesellt sich gern." Sie zeigt ein eng beieinander stehendes Paar, dass von zwei im Bildhintergrund zu sehenden Kupplerinnen gerade erfolgreich miteinander verbandelt wurde.

Anders als man es von musikalischen Umsetzungen bildnerischer Inhalte sonst gewohnt ist, geht es Henze in Los Caprichos (zumindest in den ersten beiden Bildern) gar nicht um eine illustrierende ,Vertonung‘ der Bildmotive, sondern Auswahl und Anordnung der Grafiken richten sich nach der in der Bildlegende in Worte gefassten Deutung des Dargestellten – nur diese Legenden, nicht etwa Abdrucke der Stiche finden sich ja in der Partitur. Dass diese Bedeutungen im metaphorischen Sinne auf die Komposition selber bezogen werden können, erhellt sich dabei nur demjenigen, der die komplette Vorlagensituation kennt und weiß, dass es sich bei den Caprichos ,nach Goya‘ um die Bearbeitung eines früheren Henze-Stückes handelt, das seinerseits auf eine historische Vorlage zurückgeht.

Als dritte Grafik hat Henze den Klassiker des Goyaschen Zyklus, die Nummer 43 "Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer", gewählt und für dieses Bild (T. 114 – 173) ein tumultöses Orchesterscherzo neu komponiert, das nur sehr sporadisch auf Material der Escott-Variations zurückgreift. Der offenkundigste Fall ist die Verwandlung eines abreißenden Melodiefetzens, der in der Einleitung des ersten Bildes von der "dolce" spielenden Solo-Oboe exponiert worden war. Ursprünglich handelte es sich bei den Tönen dieser Melodie um eine Figuration aus dem Präludium der Escott-Variations. Auf dem Höhepunkt des Scherzos wird diese zarte Melodie in Anlehnung an den Ausbruch des Grotesken, der in Goyas Bild Thema ist, mit aller verfügbaren orchestralen Gewalt – im Klangraum über drei Oktaven verteilt, für tiefe Streicher, Holzbläser und Tuba massiv instrumentiert und forte fortissimo gespielt – ins Monströse übersteigert:

Lucy Escott Variations, Seite 1, Akkolade 1, 4. und 5. Viertel

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Los Caprichos, T. 15 – 18, 1. Oboe

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Los Caprichos, T. 169 – 172

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Die Musik zu den Bildern vier (T. 174 – 197) und fünf (T. 198 – 214) ist vollständig aus der Instrumentation der Seiten 7, A. 4 – S. 8, A. 3 und S. 8, A. 3 – S. 9, A. 3 der Escott-Variations hervorgegangen. Formal bilden die beiden Bilder im langsamen Tempo den Mittelteil einer übergeordneten, sich in fünf Abschnitte gliedernden Bogenform, bei der um diese Mitte herum die beiden schnellen Scherzoteile (Bilder drei und sechs) und der jeweils langsamere Eingangs- (Bilder eins und zwei) und Schlussteil (Bilder sieben bis neun) angeordnet sind.

Henzes Auswahl der Grafiken konzentriert sich hier wieder auf Szenen aus dem Liebesleben der Majas, die Goya als entstehungsgeschichtlich früheste Schicht der Caprichos noch am Hofe der von ihm in unglücklicher Liebe verehrten Herzogin von Alba skizziert hat. Nummer 27 "Wer ist ergebener als er?" zeigt in ironischer Doppelung einen dienernden Galan, von dem sich eine Dame mit angewidertem Gesicht abwendet, und im unteren Teil des Bildes ein Hundepaar, bei dem sich die gleiche Szene unter Tieren wiederholt. Nummer 2 "Sie geben ihr Jawort und reichen die Hand dem Erstbesten" zeigt die Eheschließung eines ungleichen Brautpaares umgeben von skurrilen Gestalten und grölendem Pöbel.

Das Scherzo zum sechsten Bild (T. 215 – 317) ist weitgehend neu komponiert worden, wobei in den Takten eins bis drei des ersten Scherzoteils (T. 215 – 244) noch Material der Escott-Variations in die Stimmen der Holzbläser eingegangen ist. Das Trio (T. 245 – 260) besteht vollständig aus der Instrumentation der Seite 10, A. 2 und 3 der Escott-Variations, wozu in der Orchestrierung die den Walzercharakter des Ganzen ausmachende betonte Eins und eine Transposition der Bellini-Reihe – in den ersten Violinen über dem Geschehen schwebend – dazugekommen sind. Der grob-parodistische Charakter des Abschnittes bezieht sich offenbar auf die verwandte satirische Stillage in der Grafik Goyas, die einen Arzt in Gestalt eines Esels zeigt, der seinem moribunden Patienten den Puls fühlt. Der zweite Scherzoteil (T. 261 – 307) beginnt ebenfalls mit einigen Takten, die den Escott-Variations entstammen (dort sind die Töne der Bellini-Reihe in typisch pianistischer Technik als betonte, gehaltene Noten der kleinen Finger gegen eine figurative 16tel-Begleitung gesetzt), um sich dann über neu hinzukomponierten, sequenzierten Ostinati weiterzuentwickeln. Erst die Stretta (T. 289 – 307) greift auf dem Höhepunkt des Bildes wieder auf charakteristische quintgeschichtete Akkorde aus den Escott-Variations zurück.

Eine auffällige Gruppe innerhalb der von Henze ausgewählten Grafiken bilden die beiden Inquisitionsbilder, die er den Abschnitten sieben und acht zuordnet. In Goyas 80 Caprichos gibt es nur diese beiden Stiche, die sich mit der Inquisition und ihren Opfern befassen, und Henze wählt sie beide aus. Offenbar hat die Darstellung des einzelnen von die Institution der Kirche öffentlich gebrandmarkten und gerichteten Opfers ihn besonders berührt – und zur Identifikation mit dem eigenen Lebensmythos als ,outcast΄eingeladen.[7]

Das siebte Bild (T. 318 –334) zeigt die öffentliche Verurteilung einer in die Insignien der Schande gekleideten Delinquentin – sie trägt Sambenito und Coroza, das Arme-Sünder-Gewand und die spitze Pappmütze der von der Inquisition Verurteilten. Die Bildlegende "Dieser Staub ..." ist die Kurzform des spanischen Sprichwortes "Dieser Staub kommt vom Schmutz". Für diesen Abschnitt hat Henze die martialische Musik des Schlagzeuges neu hinzukomponiert. Der Tonsatz der bei Buchstabe S einsetzenden anderen Instrumente leitet sich aus den Tönen der Escott-Variations ab, wenngleich deren Charakter sich durch eine andere Rhythmisierung komplett verändert. Bratschen und Celli bringen die Bellini-Reihe als Kantilene und eine aus der Vorlage abgeleitete Gegenstimme, die Unheil und Gericht verkündenden Akkorde des Blechs auf fis- und c-Moll stammen ebenfalls aus den Escott-Variations, werden aber frei fortentwickelt.

Das achte Bild (T. 335 – 367) zeigt die Delinquentin auf einem Esel sitzend und von einer grölenden Menge umgeben auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung. Die Bildlegende "Es gab keine Hilfe dagegen" spricht das zielgerichtete Verhängnis der dargestellten Situation aus. Dies hat Henze offenbar auch zum Anlass seiner Bearbeitung genommen: Die Musik zu diesem Bild geht vollständig aus der Instrumentation der Seiten 12, A.2 – S. 13 der Escott-Variations hervor. Die der Bearbeitung hinzugefügte ungewöhnliche Vortragsbezeichnung "Cortège" (Ehrengeleit) deutet das Bildgeschehen im Sinne des Opfers um; während die Instrumentation durch sich regelmäßig verkürzende Einsatzabstände der wechselnden Klanggruppen (5 + 4 + 4 + 3 + 3 + 3 + 2 Takte) eine zielgerichtet auf den niederschmetternden Schlussakkord zustürzende Dramatik schafft.

Auch das neunte Bild (T. 368 – 399) geht vollständig aus der Instrumentation in diesem Fall des letzten Abschnittes der Escott-Variations (S. 14/15) hervor. Die Grundidee dieser letzten Variation ist es, die Bellini-Reihe, rhythmisch extrem vergrößert, als Basslinie dem gesamten Abschnitt zu unterlegen. Nachdem sie zuvor – dort wo sie in Los Caprichos hörbar hervortrat – in den hohen Lagen der Violinen oder Celli über dem restlichen Tonsatz schwebte, taucht die Melodielinie nun unter die anderen Stimmen in die Region von Kontrabass und Tuba ab.

Äußerst problematisch ist die Zuordnung des letzten Bildes zu der Bildlegende bzw. dem Bildinhalt der entsprechenden Goyaschen Grafik. Im Vorwort der Escott-Variations schildert Henze die Verwandlung der Protagonistin, ihr langsames Hinübergleiten ins Irreale, das in der Vermutung des Erzählers gipfelt, sie sei schließlich "(...) aus der Welt verschwunden, wir nehmen an, um in Nymphengestalt in der nahegelegenen Themse weiterzuleben" (Edition Schott 5428, S. 2). Neben der Verwandlung des Bellinischen Themas zur untergründigen Basslinie reflektiert die Musik die Fiktion von Lucy Escotts Verwandlung zum Wasserwesen durch die Rückkehr einer in gleichmäßig-gewundenen Achteln ruhig fließenden Bewegung – was an die Begleitung bei der Vorstellung des Themas erinnert – sowie durch die Vortragsbezeichnung "più fluido". Dieser Musik sanft schlagender Themsewellen ordnet Henze in den Caprichos eine Grafik zu, die nach Inhalt und Ausdruckscharakter in eine völlig andere Richtung weist. Mit der Bildlegende "Feine Meisterin!" versehen, sind in der Nummer 68 zwei Hexen beim Besenflugunterricht zu sehen. Eine alte Hexe bringt einer jungen – beide sind nackt und sitzen rittlings auf einem Besenstil – das Fliegen bei, wobei sie mit großer, im fliegenden Haar und der Sitzhaltung angedeuteten Geschwindigkeit hoch über eine kahle Landschaft rasen. Sofern man nicht vom Bildinhalt ganz absieht, und nur die Legende "Feine Meisterin!" auf den laut Vorwort immer sublimer werdenden Gesang der Sopranisten Lucy Escott bezieht, könnte man auch das Auftreten von Frauenfiguren aus dem Reich der Fabelwesen am Ende beider Stücke, der Nymphe hier und der Hexen dort, als verbindendes Gemeinsames ansehen. Spekulativ und nicht zu belegen sind beide Deutungen – auch wenn man um die Vorlagensituation und die auf die Bildlegenden bezogene Herangehensweise Henzes weiß, bleibt hier ein nicht mehr zu erklärender Rest.

Generell kann man zur Auswahl und dem Umgang Henzes mit den Grafiken Goyas sagen, dass sie offensichtlich nicht an Goya um Goyas willen orientiert sind. Vielmehr wird es Henze darum gegangen sein, die Bilder und Vorstellungen, die sich für ihn mit der Musik und dem Sujet der Escott-Variations verbunden haben, mit Goyas Bildern zu illustrieren. Die ganz persönlichen Assoziationen und Identifikationen des Komponisten mit der seinem eigenen Stück immanenten Liebesgeschichte, nicht Goyas aufklärerische oder sozialkritische Anliegen oder die Verfahren von deren grafischer Umsetzung, bilden den roten Faden der Bildauswahl und -anordnung in dieser Orchesterfantasie ,nach Goya‘.

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III. Intertextualität
Wenn die Beziehung zu Goya sich also als weniger ergiebig erweist, als man hätte erwarten sollen, so kann man doch an Los Caprichos im Hinblick auf Henzes eigenes Œuvre eine Reihe vergleichender Beobachtungen bezüglich der Gattung, dem musikalischen Verfahren oder der Wahl bildnerischer Vorlagen anknüpfen. Hinsichtlich der musikalischen Technik und der Verbindung zur Bildenden Kunst ist vor allem die Oper The English Cat (1980/83) zu nennen, deren Inspirationsquelle in der Tat gesellschaftskritisch-satirische Grafiken in diesem Fall von Grandville gewesen sind. Für deren technischen Kunstgriff, den verräterischen Verfremdungseffekt der Fabel, Menschlich-Allzumenschliches in tierischer Gestalt zu zeigen, findet Henze hier ein musikalisches Äquivalent in der Technik der Variation. Bekanntes und Einschlägiges – ein vulgärer Gassenhauer und ein bigotter Hymnus – wird verwandelt und verkleidet und soll doch für den nachvollziehenden Hörer als das Immer-Gleiche hinter seinen musikalischen-gesellschaftlichen Variationen erkennbar bleiben. Musikalischer Pate und Beziehungspunkt ist dabei nicht Bellini, sondern Beethoven und dessen (in Henze Lesart gegen die Restauration der Metternich-Ära gerichteten) 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli (1819/23), deren Variationstechnik und musikalisches Ausgangsmaterial zitiert werden. The Englisch Cat ihrerseits erfährt eine variierende Fortsetzung in Henzes Canzona (1982), Variationen über ein Thema aus der Oper The Englisch Cat, sowie in Notturno (1995) – das, wie uns das Werkverzeichnis wissen lässt, auf dem Finale der zweiten Szene basiert.

Wichtiger als solche äußerlichen Gemeinsamkeiten ist jedoch die Henzes Musikdenken durch Jahrezehnte hindurch zu Grunde liegende Logik, die gerade am Beispiel Los Caprichos, deren komplizierter Vorlagensituation und Gattungsbezeichnung aufgezeigt werden kann. Ihr Titel weist die Caprichos als "Fantasia" aus. Fragt man nach den Kriterien für das, was man unter einer Fantasie zu verstehen habe, so kann man für den Zeitraum des 18. und 19. Jahrhunderts aus einer unspezifischen Vielfalt von Möglichkeiten folgenden für Henze vermutlich maßgeblichen Strang herauslösen: In der deutschen Organistentradition bis J. S. Bach gibt es die Form der Choralfantasie, deren Gegenstand die freie Bearbeitung tradierter Kirchenlieder ist. In der Klassik meint Fantasie eine einsätzige Komposition improvisierenden Charakters, die in sich mehrteilig ist und aus locker aneinandergereihten kontrastierenden Abschnitten besteht. In Weiterentwicklung dieser Form findet sich in Schuberts Wandererfantasie die einsätzige, in sich mehrteilige Fantasie, die aus der variierenden Entwicklung eines Grundmaterials besteht – das in diesem Fall auf eine frühere Komposition von Schubert selbst zurückgeht. Bei Liszt schließlich wandelt sich die Fantasie zur so genannten Opern-Fantasie, bei der Bekanntes und Beliebtes aus den populären Opern der Zeit in freien Potpourris variiert wird.

Sucht man im Henzeschen Œuvre bis zum Jahr 2001 nach allen vorkommenden Werken der Gattung Fantasie, findet man derer insgesamt acht. Schon die Betrachtung der Werktitel und Untertitel verrät dabei in der Mehrzahl der Fälle das verbindende Gemeinsame: Den Fantasien Henzes ist wie den meisten der genannten historischen Gattungsvorbilder eine reflexive, zum Teil gar doppelt reflexive Struktur eigen, es handelt sich bei ihnen um Bearbeitung und Fortentwicklungen schon bestehenden eigenen oder fremden (oder beides) Materials. Eine Fantasie, so kann man sagen, ist immer eine Fantasie über etwas:

• Erlkönig. Orchesterfantasie über Goethes Gedicht und Schuberts op. 1 aus dem Ballett "Les fils de l'air" (1996) – ein Werk Henzes aus einem früheren Werk Henzes, dem Ballett nach Cocteau, in dem wiederum auf eine von fremder Hand stammende historische Vorlage Bezug genommen wird.

• Appassionatamente – Phantasie über "Das verratene Meer" (1993/94) – ein Werk Henzes über ein eigenes, wie im Falle von Erlkönig, wenige Jahre zuvor entstandenes Werk.

• Pulcinella disperato. Fantasia per pianoforte (1992) nach dem Tanzschauspiel Le disperazione del Signor Pulcinella, welches seinerseits eine "Neuschrift" des frühen Balletts Jack Pudding (1949) ist – ein Werk Henzes (die Einrichtung für Klavier stammt allerdings von fremder Hand) über ein eigenes, diesmal aus seinen Anfängen stammendes Werk.

• I sentimenti di Carl Philipp Emanuel Bach (1982) nach der Clavier-Fantasie mit Begleitung einer Violine (1787) von C. P. E. Bach – eine Henzesche Übertragung der historischen Vorlage.

• Fantasia für Streicher (1966) nach Henzes eigener Filmmusik Der junge Törless, aus der knapp zwei Jahrzehnte später auch noch Kleine Elegien (1984/85) hervorgegangen ist.

• Chorfantasie nach Lieder von einer Insel (1964) von Ingeborg Bachmann. Motiviert durch die dem religiösen Motivkreis entstammenden Bilder des Textes (Kreuzigung, Auferstehung, Heiligenlitanei) wählt Henze für die musikalische Umsetzung den Anklang an eine barocke Choralkantate. Die Besetzung – Chor, Soloinstrumente und Orgel (unbarock ist einzig das Schlagwerk) – wie auch der große, orgelbegleitete Schlusschoral weisen auf das Vorbild etwa der Bachschen Kirchenmusik. Eine konkrete musikalische Vorlage muss der Verfasser hier leider schuldig bleiben.

• Los Caprichos. Fantasia per orchestra (1963), deren Titel im Gegensatz zu den meisten oben aufgelisteten Werken nicht nur nicht verrät, sondern vorsätzlich verschleiert, dass es sich auch hier um ein Stück von Henze über ein Stück von Henze handelt, welches seinerseits von einer historischen Vorlage ausgeht.[8]

Die Liste ähnlicher Selbstbezugnahmen, bei denen die Gattungsbezeichnung "Fantasie" nicht im Titel steht, ließe sich, beginnend bei der Verwandlung von Teilen der Oper König Hirsch (1952/55) zur Vierten Symphonie (1955) und Der verwunschene Wald (1991) über die Genese des Tristan (1973) aus Henzes Klavier-Prelude und historischen Klangmaterialien bis zum bei Peter Petersen beschriebenen Ursprung des Requiem (1990/92) im Concerto per il Marigny (1956) und dem Quintetto (1990/91) sowie des zweiten Satzes der 8. Sinfonie (1992/93) im Triosatz Adagio, adagio (1993) (vgl.: Petersen 1995, S. 61ff und S. 39ff), noch beträchtlich verlängern.[9] Wenngleich er auch sie nicht als "Fantasia" bezeichnet, findet Henze im bis dato jüngsten Fall solcher Selbstbezugnahme doch einen durchaus selbstironischen Weg, das zu Grunde liegende Arbeitsprinzip beim Namen zu nennen: Einen "Raubzug in die (...) Erinnerung" (Brief an den NDR vom 30.9.2000) nennt er die Plünderung seiner Bühnenmusik Maratona (1956) für die Scorribanda sinfonica (2001)[10].

Wollte man als ein Gedankenexperiment die hier geschilderten Fakten einmal im Lichte von Henzes oben zitierter Äußerung lesen, er schreibe im Prinzip seit seinen Anfängen an einem Werk, die Grenzen der Stücke seien nicht eigentlich trennende Grenzen und sein gesamtes kompositorisches Projekt sei nur die Fortführung eines 500 oder 600 Jahre zurückreichenden Projektes, so könnte man folgenden Schluss ziehen: All das, was man gewöhnlich Parodie, Paraphrase, Double oder Bearbeitung nennt, weil es zwischen verschiedenen Stücken stattfindet, wäre nichts anderes, als was ohnehin die Quintessenz von Henzes Musikdenken und die technische Basis seiner Partituren ausmacht, es wäre entwickelnde Variation. So verstanden, handelte es sich bei der Substanzgemeinschaft verschiedener Stücke um die technische Realisation eines fortlaufenden Work in Progress, dessen Wurzeln zudem durch Zitate und Referenzen an Historisches demonstrativ weit hinter den zeitlichen Rahmen des eigenen Œuvres zurückreichten. Variation, auch über die Grenzen des Stückes hinweg, wäre die musikalische Umsetzung dessen, was der Philosoph Jens Brockmeier in seinem Beitrag zu diesem Band als "morphologische Serialität" des Mythos bezeichnet und mit der Art, wie Henzes Werk sich fortschreibt, vergleicht. Der Mythos lebt indem er sich forterzählt, er ist nicht als diese oder jene endgültig festgelegte einzelne Geschichte verstanden, sondern als die potenziell unabschließbare Gesamtheit aller ihrer Varianten. Der Fantasie, zumal dann, wenn sie wie im Falle von Los Caprichos selbst aus Variationen besteht, käme in einem solchen Verständnis eine zentrale Bedeutung für Henzes Schaffen zu, nicht weil sie in Anzahl oder Wichtigkeit mit Oper, Symphonie oder Konzert konkurrieren könnte, sondern weil in der Fantasie – verstanden als Fantasie über etwas – das zentrale Arbeitsprinzip Henzes, eine evolvierende Intertextualität, der Gegenstand der Gattung selber wäre.

Den Ursprung eines solchen Kompositionsverständnisses wird man in der von Henze seit dem Essay "Die Zeichen" (1955) vertretenden Auffassung vom Zeichencharakter der Musik suchen müssen. Klänge und die Formen ihrer Verbindung werden hier als Träger von Bedeutungen verstanden, das heißt, sie haben einen Verweischarakter. Ursprünglich spontane Funde eines schöpferischen Ausdruckswillens, etablieren sie sich, wo sie auf nachhaltige Anerkennung und Verbreitung stoßen, im System der Konventionen. Dies bedeutet aber auch, dass Klänge (und sogar die gesamte Musik selber) nur ein historisches Sein haben – sie sind für ihn, Henze, das was sie sind, weil sie so oder ähnlich früher schon einmal verwendet worden sind, weil sich in ihnen nach marxistischer Lesart menschliches Gefühl und Arbeit entäußert und verdinglicht haben.

Aus dieser Position folgen für den professionellen Arbeiter des Klanges eine Reihe von Konsequenzen hinsichtlich des Selbstverständnisses und der zu wählenden kommunikativen Strategien: so die Nähe des Komponisten zur Rolle des im künstlerischen Zusammenhang für gewöhnlich untergeordneten Arrangeurs, der weniger genialischer Tondichter als ein handwerklich beschlagener und historisch wissender Redakteur für Klänge ist.[11] Auch die Motivation des großen Herausgeberprojektes einer mehrbändig angelegten, wissenschaftlich-systematischen Dechiffrierung der Klänge als der Geschichte ihrer Verwendung unter dem Titel "Die Zeichen" erschließt sich vor allem von diesem Standpunkt aus. Schließlich gehört aber auch das weite Feld des öffentlichen Bildes des Komponisten, verstanden als die Summe seiner sanktionierten öffentlichen Äußerungen, zur Arbeit an der Geschichte der eigenen Klänge. Dies gilt vor allem für die ungebrochene Tagebuchfreudigkeit Henzes, als des einschlägigen Weges, zu verbreiten, wann und warum er wo welche Klänge wie verwendet hat. So könnte man von allen nicht-musikalischen Henze-über-Henze-Äußerungen – Essays, literarisch stilisierten Vorworten, Gesprächskonzerten, Interviews, inszenierten Porträt-Fotos[12], "Autobiographischen Mitteilungen", dem kommentierten Werkverzeichnis, beziehungsvollen Gattungs- und Vortragsbezeichnungen, demonstrativ übersprungenen Neunerhürden in der Symphonien-Produktion, enigmatischen Goya-Sätzen in der Partitur oder kryptischen Literaturverweisen in sorgsam-liebevoll archivierten Particellen – sagen, was der Semiotiker Umberto Eco über seine Romane geäußert hat: Sie sind Maschinen zur Produktion von Deutungen. Und diese Maschinen würden schlecht funktionieren, wenn der schlichteste Fall, dass der Komponist Wort für Wort sagt, was er Note für Note gemeint hat, der häufigste oder gar der einzige wäre. Denn dies ist die letzte Konsequenz aus der Auffassung von der narrativen Struktur des Mythos (und auch vom historischen Sein der zeichenhaften Klänge), dass es kein von der Geschichte ihrer Verwendungen und Wandlungen unabhängiges Wesen der Figuren und Motive gibt, Deutung und interpretierende Rekonstruktion sind immer schon mitgedacht – er lebt davon, dass wir ihn weitererzählen.

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Literatur
Fink, Monika (1988): Musik nach Bildern. Programmbezogenes Komponieren im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck, Helbling.

Geitel, Klaus (1968): Hans Werner Henze, Berlin, Rembrandt Verlag.

Henze, Hans Werner (1976): Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955 – 1975, München, Deutscher Taschenbuchverlag.

Ders. (1996a): Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Miteilungen 1926 – 1995, Frankfurt a. Main, S.Fischer.

Ders. (1996b): Ein Werkverzeichnis 1946 – 1996, Mainz, Schott.

Ders.: Werke, http://www.schott-music.com/henze/index.htm

Palmer-Füchsel, Virginia (1993): Die Solovokalwerke von Hans Werner Henze, Diss. phil, Berlin.

Petersen, Peter (1988): Hans Werner Henze. Ein politischer Musiker, Hamburg, Argument. Ders.(1995): Hans Werner Henze. Werke der Jahre 1984 – 1993, Mainz, Schott.

Timm, Werner (1979): Francisco Goya, Berlin (Ost), Henschelverlag Kunst und Gesellschaft.

Weidner, Karl-Heinz (1994): Bild und Musik. Vier Untersuchungen über semantische Beziehungen zwischen darstellender Kunst und Musik. Frankfurt a. Main, Lang.


Anmerkungen
[1] Frei von solchen Bedenken ist dagegen Karl-Heinz Weidner, der eine detailreiche vergleichende Analyse von Musik und Bildgehalt vorgelegt hat (vgl. Weidner 1994, S. 91 – 145).

[2] Dieser Essay ist der erste Teil eines Vortrages, den Henze am 28.1.1963 gehalten hat.

[3] Als weiteres Indiz für den von Henze behaupteten Zusammenhang seiner Stücke mag man die Mitteilung von Virginia Palmer-Füchsel werten, dass enge Beziehungen bestünden, zwischen Being Beauteous (1963) und der im Frühjahr 63 komponierten Filmmusik zu Muriel – offenbar gingen beide auf dasselbe Skizzenmaterial zurück (vgl. Palmer-Füchsel 1993, S. 111ff). Henze selber weist darauf hin, dass Teile des zweiten Satzes der Ariosi (1963) später in die Filmmusik zu Un amour de Swann (1984) eingegangen seien und auch in dem Klavierstück Une petite phrase (1984) verwendet würden (CD-Booklet WER 6239 2, S. 1).

[4] Würde man den Text einen Satz über die von Henze zitierte Stelle hinaus lesen, hieße es dort: "Ja, das Bild des Geliebten kann nicht alt werden, denn jeder Moment ist seine Geburtsstunde." Außerdem sei hier wenigstens darauf hingewiesen, dass ein Text mit dem Titel "Der Sammler und die Seinigen" für den sich quer durch die Musik-, Literatur- und Kunstgeschichte schreibenden Henze auch noch andere Deutungsperspektiven eröffnet.

[5] So gibt es neben der Orchesterfantasie auch noch einen weiteren Abkömmling der Lucy Escott Variations: Auf der Schallplatte Hans Werner Henze. Cembalo Modern + Jazz (P 48 111 L TWEN; 1964 oder 65) finden sich neben den Originalstücken Jazz-Versionen Henzescher Werke, so auch die Lucy Escott Improvisations, in denen das Trio Gruntz, Humair und Pedersen über Henzes Version des Bellinischen Themas improvisiert. Dass dieses Weiterwuchern seiner Musik in Richtung Jazz (wo man zwar nicht mit weniger Anspruch, aber aus einer anderen Haltung heraus Musik macht) Henze durchaus sympathisch war, mag man an dem Plattencover ablesen, für das er sein Bild – in lässiger Pose auf einem Sofa liegend, einen Arm auf der Stirn, die Beine übereinander geschlagenen und die beschuhten Füße auf dem Polster – zur Verfügung gestellt hat.

[6] Im der nachstehenden Übersicht sind identische Abschnitte von Escott-Variations und Los Caprichos durch ein Gleichheitszeichen markiert (komplett identische Bilder sind grau unterlegt), Neuarrangements auf der Basis desselben Tonvorrats sind durch eine Tilde markiert. Grundlage des Vergleichs ist die ursprüngliche Cembalo-Version der Escott-Variations; da diese fortlaufend ohne Takte notiert ist, erfolgt die Zählung hier anhand der Seitenzahlen (S.) und Akkoladen (A.).

[7] In "Musik als Resistenzverhalten" (1964) etwa sieht sich der nicht-serielle Komponist Henze von den "Vorschriften der Päpste und den Regeln der Mönche" (Henze 1976, S. 93) verfolgt.

[8] Nicht unterzubringen in dieser Reihe sind die Quattro Fantasie, bei ihnen handelt es sich allerdings nicht um ein eigenständiges Werk, sondern um die unter diesem Titel gesondert wiederveröffentlichten instrumentalen Sätze der Kammermusik 1958 mit abschließendem Epilog Adagio 1963. Nicht mit aufgenommen in die Zählung sind weiterhin Labyrinth. Choreographische Fantasie über das Theseus-Motiv von 1950, weil die Fantasie hier offenbar eine tänzerische, keine musikalische ist, sowie Cherubino (1981), Drei Miniaturen für Klavier, die Henze zwar im Werkverzeichnis und im CD-Booklet (WER 6239 2) als Fantasien bezeichnet, weil sie auf Material aus Mozarts "Voi che sapete" zurückgehen, aber eben nicht im Titel des Werkes selber.

[9] Hier ist selbstverständlich nur von solchen Werken die Rede, bei denen es zur Neukomposition eines Stückes auf der Basis älteren Materials kommt, nicht von den in Henzes Werk ohnehin zahlreichen Einrichtungen aus aufführungspraktischen Gründen, Revisionen oder Neuherausgaben bestehender Bühnenwerke als Konzert-Suite. Anspruch auf Vollständigkeit kann aber auch eine so eingeschränkte Liste kaum erheben, wie schon ein Blick in das Werkverzeichnis lehrt, wo hinter fast jedem größeren Werk eine lange Reihe von Verweisen "siehe auch" folgt – und ein Teil der Querbeziehungen im Werkverzeichnis offenkundig gar nicht erwähnt wird, sondern sich in der Beschäftigung mit Henzes Musik und Texten erst nach und nach auftut.

[10] Auch den Inbegriff bürgerlicher Trivialkultur – bei dem gleichfalls bestehendes Material zweitverwertet wird – hat Henze in jüngster Zeit wieder ausgemottet: Ein kleines Potpourri aus der Oper "Boulevard Solitude" (2000).

[11] Als Beleg der Wichtigkeit dieses Aspektes lässt sich die lange Liste der Bearbeitungen historischer Vorlagen im Henzeschen Werkkatalog anführen: Drei Orchesterstücke, Fürwahr..?! und Der Mann, der vom Tode auferstand nach Karl Amadeus Hartmann, Il re Teodoro a Venezia und Don Chisciotte della Mancia nach Paisiello, Il ritorno d’Ulisse in patria nach Monteverdi, Wesendonk-Lieder nach Wagner, Jephte nach Carissimi sowie Drei Mozartsche Orgelsonaten und I sentimenti di Carl Philipp Emanuel Bach. Weiterhin gehören in diese Kategorie Bearbeitungen eigenständigeren Charakters, die mit neuen, den Bearbeitungscharakter bisweilen offen darlegenden Titeln versehen wurden: Il Vitalino raddoppiato und Sonata per otto ottoni nach Vitali.

[12] Neben dem erwähnten Plattencover wäre hier an das Titelfoto des 1991 vom Schott-Verlag herausgegebenen Werkverzeichnisses zu denken, das Henze in der zum Klischee gewordenen Pose des Schimonschen Beethoven-Porträts mit schräg nach oben aus dem Bild blickenden Augen und charaktervoll fest verkniffenen Lippen zeigt.

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