Ilja Stephan Musikpublizist

Themen

Komponisten

Interpreten

Ostasien

Hamburg

Ricardo Chailly - Geburtstagsgrüße aus Leipzig
in: Welt am Sonntag, 8. Februar 2009, Hamburg-Teil.

Am 3. Februar 2009 wird Mendelssohns 200. Geburtstag gefeiert. Sind solche Jubiläen für Sie als Musiker mehr Pflichttermin oder Chance?
Riccardo Chailly: Leipzig identifiziert sich sehr stark mit den Namen Bach, Mendelssohn und Wagner. Insofern ist der 3. Februar ein zentraler Termin in unserer Saison. Das Großartige an solchen Jubiläen ist, dass sie die Möglichkeit zu Neuentdeckungen eröffnen. Wir kennen selbstverständlich die weltberühmten und beliebten Meisterwerke Mendelssohns. Aber es gab bei Mendelssohn diesen rastlosen Perfektionismus. Er war nie zufrieden mit seinen Kompositionen. Sein Leben bestand aus täglichen Turbulenzen wegen Korrekturen, Retuschen und immer neuer Ideen zur Verbesserung seiner Werke. Das gibt uns heute die Gelegenheit, neue Fassungen zu entdecken – wenn nicht neue Kompositionen. Wir haben ein gesamtes Programm zu Neuentdeckungen geplant. Unter anderem spielen wir [in Leipzig] die „Humboldt-Kantate“, ein sehr interessantes, 20-minütiges Werk für Männerchor und kleines Orchester, das er für ein Privatkonzert zu Hause in Berlin geschrieben hat. Im Bild des Genies Mendelssohn fehlt bis jetzt diese Komposition. Genauso wie das von Marcello Bufalini rekonstruierte 3. Klavierkonzert. Hier hat Mendelssohn die ersten zwei Sätze komponiert, aber für den dritten nur Skizzen hinterlassen. Dank dieser Rekonstruktion kann man nun ein wunderbares Stück hören, das Mendelssohn in der Zeit des Violinkonzerts komponiert hat.

Alle Welt kennt von Mendelssohn die großen Hits wie die „Italienische Symphonie“, das Violinkonzert oder „Ein Sommernachtstraum“. Das sind vielleicht 10 von insgesamt 750 Werken, der Rest ist nahezu vergessen. Zu Recht oder nicht?
Chailly: Es gibt so viele andere Meisterwerke. [Auch ich habe zuerst diese Stücke für mich entdeckt.] Aber das war, als ich noch keine zwanzig Jahre alt war. Später habe ich für mich den „Lobgesang“ entdeckt, das war ein Höhepunkt meiner Erfahrungen mit dem Genie Mendelssohn. Dieses Werk hab’ ich viele Male dirigiert und zwei Mal aufgenommen. In der Scala habe ich letztes Jahr den „Lobgesang“ im Weihnachtskonzert dirigiert, und das Mailänder Publikum war begeistert. Es gibt viel, was ich noch nicht dirigiert habe, was mich aber auch sehr interessiert wie z.B. die „Erste Walpurgisnacht“ – ein viel zu selten gespieltes Stück. Oder die anderen Symphonien, die Erste oder die Reformationssymphonie. Da gibt es Raum für Entdeckungen. In Mailand möchte ich in ein paar Monaten die Urfassung der Reformationssymphonie dirigieren; dort steht noch eine lange Kadenz der Flöte vor Beginn des vierten Satzes als eine riesige symphonische Vorbereitung für das Choralthema. Der abrupte Einsatz dieser Melodie hat mich immer etwas provoziert. In der Urfassung wird klar, das Choralthema ist die Konsequenz, der Abschluss einer langen Brücke zwischen Andante und Finale. Das sind insgesamt vier Partiturseiten, in denen man viel mehr von Mendelssohns Originalität sehen kann. Mich fasziniert diese Urfassung. Man kann ja beide Fassungen nebeneinander bestehen lassen, aber das Mendelssohn-Jahr ist jetzt der ideale Anlass für solche Entdeckungen.

Bei Mozart oder Schubert sind die naiv-idealisierenden Bilder vom „Götterliebling“ oder betulichen Liedkomponisten längst durch ein realistischer Sicht ersetzt worden. Glauben Sie, dass solche Quellenstudien uns eine ähnliche Revision von Mendelssohns Musterknaben-Image bringen werden?
Chailly: Das Bild von Mendelssohn ändern? Nein. Aber verbreitern! Man kann das Genie Mendelssohns in viele neue Richtungen kennen lernen. Es ist zu einfach zu sagen, die „Italienische“ ist ein tolles Werk von A bis Z. Man muss wissen, dass die so genannte „endgültige Fassung“ viel einfacher ist. In meinen Augen keineswegs eine Verbesserung, für mich ist die späte Fassung fast eine Enttäuschung. Die berühmte Urfassung ist reicher, komplexer, interessanter und deshalb schöner. Aber man muss das kennen. Er hat das zu seiner „endgültigen Fassung“ erklärt.

Der Komponist Mendelssohn scheint an seinem Perfektionismus fast erstickt zu sein. Er hat Jahrzehnte an seinen eigenen Partituren revidiert und die Klassiker auf Podest gehoben. Ein bürgerlicher Künstler erschlagen von seinen hohen Idealen?
Chailly: Er hat das Komponieren so ernst genommen. Mendelssohn war zu erfolgreich als Pianist und Dirigent, und die Jahre in Leipzig als Gewandhauskapellmeister waren natürlich glorios. Die kompositorische Erfahrung ist für ihn etwas Abgesondertes. Er versteht sie als Alternative zu seiner Arbeit als ausübender Musiker, aber nicht als zentralen Fokus seines Lebens. Die Reformationssymphonie wollte er nicht veröffentlicht sehen; ebenso die wunderschöne „Trompetenouvertüre“, ein frühes Meisterwerk. Heute wissen wir, dass viele dieser Kompositionen für die Musikgeschichte 100-prozentig unverzichtbar sind.

Sie haben an Mendelsohn mal den „Mut zum Neuen“ gelobt. Das erstaunt, er gilt selbst seinen Verehrern als Klassizist, dessen produktive Phase mit dem Biedermeier zusammenfällt und der seine größten Erfolge im viktorianischen England gefeiert hat.
Chailly: Das ist für mich ein Aspekt bei Mendelssohn, die Form. Er war total fixiert auf die [gängigen] musikalischen Formen der Zeit. Aber, der „Mut“ und das „Neue“ liegen in der Orchestrierung. Nehmen Sie Scherzo aus dem „Sommernachtstraum“, ein für seine Zeit fast revolutionäres Stück. Bis heute, auch mit unserem Orchester, einem der großen Mendelssohn-Orchester der Welt, ist diese Musik so heikel, fast an der Grenze der Spielbarkeit. Einen anderen Aspekt zeigt die „Hebriden“-Ouvertüre: Mendelssohn hat das Konzept des „Tonpoems“ entdeckt. Schon die frühe Trompeten-Ouvertüre ist eine musikalische Erzählung, fast wie ein konzentriertes Tonpoem. – Leider hat er diesen Aspekt nicht weiter entwickelt. Aber ich sehe das Neue und das Überraschende bei ihm in dieser Richtung.

Mendelssohns Schaffenszeit wird grob abgesteckt von den beiden großen Revolutionsjahren 1832 und 1848. In seinem Werk spiegelt sich nichts von den Turbulenzen seiner Zeit, es scheint total abgehoben.
Chailly: Das ist wahr, er hat wirklich auf einer künstlerischen Insel gelebt. Er war in seinem Universum. Nicht direkt verbunden mit der Welt um ihn herum. Aber, was bleibt sind die unvergleichlichen Meisterwerke, das ist das Wichtige, nicht seine Biografie oder der Einfluss zweier Revolutionen.

Was geht uns heute eine Musik an, die schon zu ihrer Zeit unter einer Glasglocke gedieh?
Chailly: Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, er war in seinen letzten Jahren nicht der Mensch für neue Visionen oder Ideen für eine neue Sprache. Das können sie nicht vergleichen z.B. mit Puccini, wo sie von „Le Villi“ bis „Turandot“ eine unglaubliche Entwicklung in der Sprache sehen. Aber es gibt eine Einheit in Mendelssohns Werk, eine unverkennbare Persönlichkeit, wo man schon nach drei Takten Musik sagen kann: „Das ist Mendelssohn“. Schon in der frühen „Humboldt“-Kantate merkt man sofort diesen bestimmten „classicismo“ in Kombination mit „neo-romanticismo“ in seiner Sprache. Das ist absolut einmalig, und das ist bis zur letzten Komposition so geblieben.

Als Dirigenten verbindet man sie mit expressiven Komponisten wie Mahler, Puccini oder Schostakowitsch. Wie ist Ihre ganz persönliche Beziehung zu Mendelssohn?
Chailly: Ich bin stark verbunden mit Johann Sebastian Bach. Deshalb ist auch die Verbindung Mendelssohn-Bach für mich unverzichtbar. Außerdem bin ich sehr interessiert an den symphonischen Werken Robert Schumanns. Beide spielen eine große Rolle in meinem Leben.

Mendelssohn war nicht nur Komponist, sondern Dirigent, Pianist, Konservatoriumsgründer, Organisator und Anwalt der Musik von Bach, Händel, Beethoven oder Schumann. Wo sehen Sie persönlich als Gewandhauskapellmeister die Bedeutung ihres großen Vorgängers?
Chailly: Nur als Dirigent. Und das ist mehr als genug. Die Wurzeln des Gewandhausorchesters, eines der ersten Orchester dieser Welt, sind so lang und so tief. Das fasziniert mich täglich. Für mich konzentriert sich die Frage auf meine Dirigiererfahrung hier in Leipzig. Und hoffentlich können wir in Zukunft mehr und mehr auch in Sachen Mendelssohn neue Ideen nach Leipzig bringen.

Sie planen u.a. eine Reihe mit Kammermusik von Mendelssohn und Uraufführungen?
Chailly: Ja, es wird von August bis September eine großes Mendelssohn-Festival geben. Auch bei der Kammermusik gibt es so viel zu entdecken. Die Frage ist doch: Brauchen wir eine solche Feier des Genies Mendelssohn? Meine Antwort ist, ja! Und bitte, nehmen wir es als Anlass auch für neue Entdeckungen. Das ist für mich der Sinn einer solchen Jubiläumssaison.

Nach oben