Ilja Stephan Musikpublizist

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Toshio Hosokawa - Eine Insel der Seligen?

In „Hanjo“ greift Hosokawa auf ein sechshundert Jahre altes nationales Kulturdenkmal Japans, das Nô-Theater, zurück; diese Vorlage wird gesehen durch die Optik eines der bedeutendsten japanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts mehr...


Toshio Hosokawa - Rezension

Die 15 Gespräche mit Toshio Hosokawa, die Walter-Wolfgang Sparrer zwischen 2008 und 2009 mit dem japanischen Komponisten führte, sind Zeugnis eines Dilemmas: „Ich fühle mich sehr wohl in Europa“, bekundet Hosokawa, „aber manchmal denke ich, was mache ich hier?“ mehr...

„Blumen, die auf dem Schweigen blühen“
Vergänglichkeit und spiritueller Erfahrung in der Musik von Toshio Hosokawa
in: Programmhefte Rheingau Musik Festival, Juli 2008.

Die selbst gewählte Aufgabe des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa ist die „Suche nach einer neuen Form spiritueller Kultur und Musik des japanischen Volkes“ (Hosokawa), in der er sich selbst und seiner Herkunft treu bleiben kann. Wie aber bleibt man seinen Wurzel treu, ohne dabei in einem fruchtlosen Konservativismus zu erstarren, ohne äußerliche Formen zu kopieren, deren tragender Sinn längst nicht mehr auszumachen ist? Hosokawa jedenfalls hält sich mehr an das, was er als geistige Essenz der traditionellen Kultur empfindet, als an konkretes historisches Material oder musikethnologisch säuberlich zu etikettierende Zitate. In seiner Musik manifestieren sich ästhetische Prinzipien und eine bestimmte Art, die Welt zu sehen, wie sie sich auch an der von Buddhismus und Schintoismus geprägten Kunst seiner Heimat ablesen lassen. Für diese geistige Konzepte und existentielle Grunderfahrungen sucht der zum großen Teil in Europa ausgebildete, für ein internationales Publikum schreibende Komponist mit den Mitteln und in den Formen der westlichen Kunstmusik nach einem zeitgemäßen Ausdruck.
Zu den tragenden Grunderfahrungen der asiatischen Kunst zählt die Vergänglichkeit. Sein wird hier als Werden und Vergehen definiert, Gegenwart als die Schnittmenge aus Ahnung und Erinnerung. Das Flüchtige und das Abwesende sind so zentrale ästhetische Kategorien. In der Tuschemalerei, die vom Taoismus oder seinem japanischen Abkömmling, dem Zen-Buddhismus, inspiriert ist, legt man den größten Wert auf jene Fläche des Papiers, die leer bleibt. Dichtung aus diesem Geist favorisiert die Andeutung vor der klaren Aussage. Und unter den bildnerischen Motiven wird vor allem die Blüte zum Symbol für mujô, das Vergehen. Eine besondere Art, die Hinfälligkeit der Dinge zur ästhetischen Erfahrung werden zu lassen, stellt die genuin japanische Kunst des Ikebana dar. So kurios es für europäische Ohren klingt, beim Ikebana, was wörtlich „lebende Blumen“ bedeutet, werden Blumen geschnitten, also getötet, um aus ihnen ein vom Moment seiner Entstehung an im Zeichen von Tod und Verwelken stehendes Bild des idealen Lebens zu arrangieren. Dessen besondere Schönheit kommt erst ganz zur Geltung vor dem Hintergrund seiner Flüchtigkeit.

Dinge aus ihrem Naturzusammenhang zu lösen, sie mit einem scharfen Schnitt (kire) vom Leben abzutrennen, um aus ihnen dann eine zweite Natur zu schaffen, ist ein zentrales Verfahren der japanischen Kunst. Der berühmte Steingarten von Ryôanji, den eine Mauer von seiner Umgebung abschneidet, imitiert mit toten Objekten das Leben einer natürliche Landschaft. Um jene heisere Rauhigkeit zu erreichen, die dem traditionellen Ideal des naturhaften Klanges entsprach, pflegten Sänger ihre Stimmbänder durch Üben bei eisiger Kälte kaputtzumachen. Und ein (männlicher) Schauspieler im Nôh-Theater kann sein Leben darauf verwenden, um im Alter, auf der Höhe seiner Kunst und von Maske und Kimono zur Kenntlichkeit entstellt das Wesen eines jungen Mädchens vollkommen zu verkörpern. Wo diese manieristische Schauspielkunst ihre höchste Form erreicht, spricht der Theoretiker des Nôh Zeami Motokiyo von ihrer „Blüte“ (hana).

Blumen ziehen sich als Symbol und Thema nun schon seit Jahren auch durch das Werk Toshio Hosokawas. Unmittelbarer biografischer Anknüpfungspunkt wird die Person seines Großvaters sein, der Meister in der Kunst des Blumensteckens (Ikebana) war. Doch im Kern geht es Hosokawa darum, die existentielle Dimension der traditionellen Kunst mit neuen Mitteln erfahrbar zu machen. Bei seinem 1998 für das Arditti Quartet komponierten Werk „Silent Flowers“ wollte Hosokawa nach eigenem Bekunden Klänge schaffen, die vor dem Hintergrund der Leere ihre besondere Schönheit entfalten, „Klänge (die) existieren wie Blumen, die auf dem Schweigen blühen“. Modell standen ihm dafür die flüchtige Schönheit der Ikebana-Blumen und Zeamis Ideal der „Blüte“. Allerdings beginnt die Komposition völlig anders, als es eine solche Ankündigung und der Titel „Stille Blumen“ erwarten lassen würde. Wir hören vielmehr laute, scharfe und gewaltsam abreißende Gesten des Streichquartettes, die die gespannte Stille des Konzertsaales förmlich zerschneiden. Erst vor dem Hintergrund dieses „Gemetzels“ im ersten Teil erblühen dann im weiteren Verlauf immer mehr jener schönen Klänge, die aus dem Nichts aufscheinen und wieder vergehen. Man muss die Kunst des Ikebana schon als Meditation über den Tod und die Vergänglichkeit verstehen – und nicht als hübsch anzuschauende Dekoration –, um die Gewaltsamkeit dieses Anfanges mit Titel und Thema der Komposition in Einklang zu bringen.

Eine unübertroffene Art, die Philosophie der Vergänglichkeit, das permanente Werden und Vergehen musikalisch zu erfahren, ist, den ätherischen, fast unweltlichen Klang der shô zu hören. Diese in ihrer traditionellen Form aus 17 kreisförmig angeordneten Pfeifen bestehende Mundorgel ist bis heute in der japanischen Hofmusik, dem gagaku, gebräuchlich. Durch Ein- und Ausatmen erzeugt der Spieler einen ununterbrochenen Klangstrom, der zugleich in der Lautstärke an- und abschwellen kann. Anders als in aller anderen asiatischen Musik, die im Prinzip einstimmig ist, werden dabei auf der japanischen shô Akkorde gespielt. Aitake, „vielfacher Bambus“, heißen diese dissonanten Klangballungen, deren Wechsel ein guter shô-Spieler so unmerklich wie möglich zu gestalten weiß. Beim Übergang von einem Akkord zum nächsten bleiben dabei stets einige Töne liegen und überlappen sich mit dem Folgeklang, so dass insgesamt ein an- und abschwellender, sich in seiner inneren Zusammensetzung permanent verändernder Klangstrom entsteht. Dieses wunderbare Instrument und die gesamte Tradition der Hofmusik hat Hosokawa einige Jahre lang unter Anleitung der Solistin des heutigen Abends, Mayumi Miyata, studiert.

In seinem Stück „Landscape V“ hat Hosokawa die shô mit der klassischen Formation der europäischen Kammermusik, dem Streichquartett, kombiniert. Die Musik entwickelt sich dabei so langsam und strahlt eine solche meditative Ruhe aus, dass man in den ersten Minuten des Stückes fast das Gefühl hat, als täte sich gar nichts. Erst wenn man sehr genau hinhört und in den Klang förmlich hineinkriecht, erlebt man, dass es im Verhältnis der beiden Partner von Anfang an feinste Unterscheidungen gibt, die den Anstoß zu einem Prozess zunehmender Differenzierung bilden. Zu Beginn von „Landscape V“ imitiert das Streichquartett noch die klanglichen Eigenarten der shô: Sein Klang wird in lichte, unirdische Höhen entrückt und es übernimmt den gleitenden Wechsel von einem lang gehaltenen Akkord zum nächsten. Die ersten Akkorde von shô und Streichquartett sind dabei – bis auf die winzige Verschiebung um einen Viertelton – noch identisch. Dann schleichen sich langsam Springbogeneffekte, Vibrato, Tremolo und andere streichertypische Spielweisen ein und die Zusammenklänge zwischen den beiden Partnern werden komplexer. Auf dem Höhepunkt des Stückes stehen auch hier scharfe, die Stille zerschneidende Gesten des Streichquartetts. Im Schlussteil entfalten beide Partner sich dann freier; vor allem die Eigenheit des Quartettklanges kommt nun stärker heraus. Es entwickeln sich Ansätze zu melodischer Bewegung und das Cello erobert sich die bis dahin ausgesparten tiefen Register. Am Schluss der Entwicklung steht ein weiter, quasi „orchestraler“ Zusammenklang von vier individuellen Streichern und shô.

Ein zentrales buddhistisches Symbol, das sich durch eine ganze Reihe von Toshio Hosokawas jüngsten Werken zieht, ist die Lotus-Blume. „Die Blüte des Lotus“, so schreibt Hosokawa, versinnbildlicht die Öffnung des Geistes, das Erwachen des Selbst und das tiefe Verlangen nach ‚satori‘ (Erleuchtung) und Schönheit. Die Wurzeln des Lotus reichen bis tief in den schlammigen Untergrund unter der Oberfläche des Sees; der Stängel durchmisst das Wasser; die Knospe träumt davon, nur eben den Wasserspiegel zu durchbrechen, um sich dem Himmel zu öffnen. (...) Wie schon in seinem Klavierkonzert von 2006 arbeitet Hosokawa auch in dem 2007 im Auftrag der KölnMusik komponierten Streichquartett „Blossoming“ sehr konkret mit der Metapher einer auf der Teichoberfläche schwimmenden Lotus-Blüte. Der Wasserspiegel, die gerade Linie, die Über- und Unterwasserwelt trennt, ist am Anfang des Stückes sehr anschaulich im lang gehaltenen Ton b zu hören. Erst nach gut einer Minute trübt ein erstes trillerndes Gekräusel die glatte Fläche. Und nach und nach fangen die Instrumente an, um diese tonale Achse herum erste melodische Triebe zu bilden und sich die Regionen unter- und oberhalb des „Wasserspiegels“, den „Schlamm“ und den „Himmel“, zu erobern.

Es klingt ein bisschen wie ein musikalischer Entwicklungsroman, wenn Hosokawa selbst zu dieser Musik der Entfaltung schreibt: „Die Blume und ich sind eins – das Lied der Blume ist mein Lied. Das Erblühen der Blume stellt meine Entblätterung, meine Selbstfindung dar.“ Doch ist die Musik nicht aus einer romantisch-gefühligen Haltung heraus geschrieben. Sie ist aller persönlicher Teilnahme zum Trotz eben nicht subjektive Gefühlsergießung, sondern bedient sich eines tief in der asiatischen Kultur und im kollektiven Bewusstsein verankerten Topos. Es ist ein archetypisches, nicht unpersönliches, sondern überpersönliches Geschehen, das der Komponist Toshio Hosokawa in der Musik des 21. Jahrhunderts zu einer aktuellen, unmittelbaren Erfahrung werden lässt.