Seoul Philharmonic - Musik als Chefsache
Das Seoul Philharmonic Orchestra auf dem Weg zum Weltklasseorchester?
in: das Orchester, Heft 1/2012, S. 32 - 35.
Das Seoul Philharmonic Orchestra als Weltklasseorchester zu etablieren, war ein Wahlversprechen des ehemaligen Bürgermeisters und heutigen Staatspräsidenten Lee an die Bürger von Seoul. Ein Bank-Manager strukturierte das Orchester 2005 radikal um. Heute entwickelt sich das Seoul Philharmonic zum Nationalorchester Südkoreas und gastiert in den Klassikhochburgen des Westens
Die „Koreanische Welle“ ist in Deutschland angekommen. Das jedenfalls vermeldete die Zeitung „Chosun Ilbo“ am 29.7.2011, angesichts eines ersten Platzes, den der neue Song der koreanischen Girl-Band „2NE1“ in den Online-Charts des Musiksenders VIVA belegte. „I am the best“ heißt deren No.-1-Hit und bringt damit das Selbst- und Sendungsbewusstsein des Tigerstaates auf den Punkt. Denn in Asien rollt „Hallyu”, die „Koreanische Welle“, bereits seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Koreanische Filme, K-Pop und Mode fluten den asiatischen Markt und stellen eine echte Herausforderung fürs nationale Selbstbewusstsein der chinesischen und japanischen Nachbarn dar. Gut 14% Wachstum gegenüber dem Vorjahr und einen Umsatz von ca. 4 Milliarden USD prognostiziert die „Korean Creative Content Agency“ (KCCA) für Koreas Kulturexporte 2011. Doch das ist nur ein erster Schritt: „global content leader“ zu werden, lautet das „mission statement“ der KCCA.
Wenn das Geld auch im Pop-Bereich verdient wird, kulturelles Prestige ist noch immer an traditionelle Werte gebunden. Und so stellt das 2005 runderneuerte Seoul Philharmonic Orchestra (SPO) eine Art hochkultureller Schaumkrone auf der Spitze der „Koreanischen Welle“ dar. Die spülte nun am 27.8.2011 an den Weserstrand: Vom Schaulaufen der Spitzenorchester in Grafenegg kommend, über Stationen im Concertgebouw und beim Festival in Edinburgh, beendete das Seoul Philharmonic seine diesjährige Europatournee mit drei Konzerten zur Eröffnung des Musikfestes Bremen.
Vorgeschichte und Neuanfang
An der Geschichte des SPO lässt sich die tiefgreifende Umwandlung der koreanischen Gesellschaft nach der Asien-Krise ebenso ablesen wie die überragende Bedeutung, die man der kulturellen Bildung im eigenen Land und der „soft power“ der Kultur für die Eroberung ausländischer Märkte zuschreibt: Gegründet wurde das Seoul Philharmonic Orchestra 1948, zu einer Zeit, als die klassische Konzertmusik in Korea noch „in den Kinderschuhen steckte“, wie der CEO des Orchesters, Jooho Kim, heute sagt. Das Orchester ist also mit der Klassik in Korea gewachsen; doch um die Jahrtausendwende stand Seouls Vorzeigeklangkörper kurz vor dem Kollaps. Verwaltungstechnisch unterstand das Orchester damals dem städtischen Sejong Performing Arts Centre. Der Kleinkrieg mit der öffentlichen Hand trieb kurioseste Blüten: Aus Protest gegen den bürokratischen Aufwand bei der Beschaffung eines neuen Paukenfells spielte das Orchester demonstrativ mit kaputter Pauke. Bei anderer Gelegenheit verließen die Mitglieder der Musikergewerkschaft während des Konzerts das Podium. Die Rettungsversuche der Kulturverwalter blieben äußerlich und planlos: So engagierte man, um den lädierten Ruf des Orchesters aufzupolieren, für teures Geld Lorin Maazel zu einem einzelnen Gastdirigat.
Fahrt nahm die überfällige Reform des Orchesters erst auf, als in Korea ein scharfer, neo-liberaler Wind zu wehen begann. Der IWF hatte dem Land 1998 einen strikten Privatisierungskurs verordnet, der nach und nach alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrang. Das daniederliegende Seoul Philharmonic zu einem Weltklasseorchester aufzubauen, gehörte so zu den Wahlversprechen, mit denen Myung-Bak Lee 2002 die Bürgermeisterwahlen in Seoul gewann. – Bevor er in die Politik wechselte, war Lee Manager der Baumaschinensparte des Hyundai-Konzerns gewesen und hatte sich den Spitznamen „Bulldozer Lee“ verdient. Heute ist er Präsident Südkoreas und hat dem Land das Jumbo-Projekt „747“ als Zielvorgabe verordnet: 7% Wachstum, 40 000 USD Pro-Kopf-Einkommen, 7. größte Volkswirtschaft. Lee beauftrage eine Consulting Agentur damit, ein Sanierungsprogramm für das SPO zu entwerfen; als künstlerischen Leiter gewann er den einzigen koreanischen Dirigenten von Weltruf, Myung-Whun Chung; und als Geschäftsführer setzte er einen alten Studienfreund ein: den in Musikfragen völlig unbeleckten aber als knallharter Sanierer bekannten Bank-Manager Pal-Seung Lee.
Unter Pal-Seung Lees Leitung wurde das SPO in eine eigenständige Stiftung überführt. Nachdem 2004 nur 34% der Besucher für ihre Karte bezahlt hatten, strich Lee alte Privilegien und steigerte die Zahlerquote 2007 auf 64%. Die Preisspanne bei den Tickets wurde von USD 10,- bis 30,- auf USD 10,- bis 100,- ausgeweitet; und im Tausch gegen mediale Präsenz wurden exklusive Senderechte an einen TV-Sender vergeben. Zu den Hauptsponsoren in dem neu aufgelegten Fundraising-Programm gehörten u.a. die beiden Großbanken Hana und Woori für das „outreach“-Programm sowie der Hyundai-Konzern für die Tourneen. Der Anteil städtischer Subventionen konnte so von 90% vor 2005 auf heute 70% des (gestiegenen) Etats gesenkt werden. Zudem wirbt das Orchester nun mit zahlreichen „outreach-“ und „education-“Veranstaltungen vor allem um ein junges Publikum. Von den 150 Konzerten, die das SPO im Jahr spiele, entfielen 60% auf solche Bildungs- und PR-Veranstaltungen, berichtet der derzeitige CEO Kim.
Jung, weiblich, befristet
Gravierende Folgen hatte die Restrukturierung für die Musiker. Sie wurden 2005 vor die Wahl gestellt, sich entweder einem Probespiel zu stellen oder zu gehen. Fast 50 Prozent der Mitglieder seien damals ausgetauscht worden, sagt Kim. Heute seien die Verträge auf ein Jahr befristet; danach müssten die Musiker sich einer Neuevaluation unterziehen. Wer bleiben darf, entscheide der Chefdirigent, flankiert von einigen Hochschul-Professoren als externen Beratern. Rund 5% der Musiker würden so jedes Jahr ersetzt. Die Verwaltung ist vom Wettbewerbsdenken nicht ausgenommen, auch deren Mitarbeiter würden jährlich beurteilt und gegebenenfalls ausgetauscht. Eine Arbeitnehmervertretung sei gesetzlich vorgeschrieben, bestätigt Kim auf Nachfrage, aber in einer Gewerkschaft seien seine Musiker nicht. Tatsächlich sucht das SPO seine Mitglieder heute auf dem internationalen Arbeitsmarkt; während der Tourneen veranstaltet das Orchester Probespiele u.a. in Amsterdam oder New York. Dass dies alles recht „tough“ sei, räumt Kim unumwunden ein, doch wenn das Orchester sich erst einmal konsolidiert habe, wolle er seinen Musikern wieder längerfristige Sicherheiten bieten.
Wie man beim Gastspiel in Bremen beobachten konnte, ist das SPO von heute überwiegend weiblich und jung. Ein einsamer, graumelierter Veteran streicht noch seinen Kontrabass. Den Konzertmeister, Svetlin Roussev, hat Chung vom Orchestre Philharmonique de Radio France mitgebracht. Schlüsselpositionen vor allem bei den Blechbläsern sind von Westlern besetzt. Das Gros der Streicher aber besteht aus jungen Koreanerinnen, die laut Kim zu 90% in Europa oder den USA studiert hätten. Dorthin drängt es auch das Orchester: Nach einer Tournee 2010, die nach Berlin, Bologna, St. Petersburg und Prag führte, und den vier Gastspielen 2011 wolle man 2012 die Westküste der USA bereisen. Außerdem stünden China und Japan auf dem Tournee-Plan – das sei quasi Pendelverkehr ins Umland, scherzt der Orchestermanager. Als erstes asiatisches Orchester hat das SPO außerdem seit April 2011 einen Vertrag mit der Deutschen Grammophon vorzuweisen.
Nationalorchester mit Raumnot
Seinem Ansehen und Anspruch nach sei das SPO heute „das Nationalorchester“ Koreas, schwärmt Jooho Kim. Doch auch mit Unterstützung von höchster Stelle wachsen nicht alle Bäume in den Himmel. Bis heute mangelt es dem Orchester an einer angemessenen Spielstätte. Zu den Plänen von Bürgermeister „Bulldozer-Lee“ hatte u.a. ein neu zu bauendes, hypermodernes Kulturzentrum mit Konzertsaal auf einer Insel mitten im Han-Fluss gehört. Eine entsprechende Klausel über den neuen Saal ist sogar Bestandteil von Chungs Vertrag. Doch das ehrgeizige Projekt, dessen Baubeginn 2010 hätte sein sollen, strandete in den Untiefen der Lokalpolitik. So spielt das SPO seine Abonnementkonzerte bislang im (überbuchten) Konzertsaal des Seoul Arts Centre, während es zu den repräsentativen Anlässen, die es als Orchester der Stadt zu bespielen hat, im Meerzwecksaal des Sejong Centre auftritt. Allerdings deutet Kim für das Spielstättenproblem eine typisch koreanische Lösung an, bei der Großkonzerne und staatliche Lenkung zusammenwirken: Der koreanisch-japanische Konzern LOTTE, dessen Name die Goethe-Begeisterung seines Gründers bezeugt, wolle in Seoul ein monumentales Hochhaus mit Shopping Mall errichten. Die Baugenehmigung dafür habe die Stadtverwaltung nur unter dem Vorbehalt erteilt, dass darin auch ein Konzertsaal gebaut werde. Und so dürfe das SPO für 2015 auf einen eigenen Saal hoffen, für dessen Akustik der weltweit führende Fachmann Yasuhisa Toyota zuständig sei.
Zu den Verpflichtungen, die für das SPO mit dem Anspruch eines Nationalorchesters verbunden sind, zählt die Kärrnerarbeit für Koreas Platz in der Geschichte der Konzertmusik. Obwohl die neue Musik in Asien einen noch schwereren Stand hat als in Europa, bildet das Engagement für die Musik der Gegenwart einen Schwerpunkt bei den Aktivitäten des SPO. Mit Unsuk Chin konnte man die einzige koreanische Komponistin von Weltruf als Composer-in-Residence und Kuratorin der Neue-Musik-Reihe „Ars Nova“ gewinnen. Diese Reihe bietet einen Querschnitt durch die Geschichte der westlichen Avantgarde und dient zugleich der Förderung des eigenen Komponistennachwuchses: Webern, Ligeti, Messiaen, Boulez oder „American Mavericks“ wie Nancarrow und Partch standen seit 2006 auf dem Programm; 95% dieser Werke seien koreanische Erstaufführungen gewesen, berichtet Chin. Zudem vergibt das SPO jährlich einen internationalen Kompositionsauftrag: Konzerte von Dusapin, Eötvös und Murail sollen bis 2013 vom Orchester uraufgeführt werden. Auf nationaler Ebene stellt sich das SPO Kompositionsstudenten für „reading sessions“ zur Verfügung, Kurse für Komponisten sowie Workshops für Jugendliche begleiten die „Ars Nova“-Konzerte. Darüber hinaus wird in jeder Projektphase von „Ars Nova“ ein Werk eines koreanischen Komponisten uraufgeführt. Auf seiner Europa-Tournee 2011 hatte das SPO so neben Tschaikowsky, Ravel und Debussy auch das neue, fürs SPO und den Solisten Wu Wei geschriebene Konzert für Sheng und Orchester von Unsuk Chin im Gepäck.
Engagiert und trendy
Was das Musikalische angeht so präsentierte sich das SPO bei seinem Gastspiel in Bremen als ein spieltechnisch erstklassiges Orchester mit sehr homogener Streichergruppe und sattelfesten Bläsern, das von seinem Leiter Chung vor allem auf Präzision und Transparenz getrimmt worden ist. – So hätte man die doppelbödige Walzerseligkeit in Ravels „La Valse“ gewiss auch lustvoller zelebrieren können als der sachlich-kapellmeisterliche Chef das von seinem Orchester einforderte. Denn das eigentliche Kapital des SPO liegt in seinen jungen und – aus naheliegenden Gründen – hoch motivierten Mitgliedern. Unsuk Chin, die als bekennende Wahlberlinerin mit der Kommerzialisierung der Klassik in Korea und den dortigen Arbeitsbedingungen für Künstler hart ins Gericht geht, schwärmt doch uneingeschränkt von der Opfer- und Einsatzbereitschaft ihrer Landsleute: „Wir haben viele Werke aufs Programm gesetzt, die normalerweise nur noch von hochspezialisierten Neue-Musik-Ensembles aufgeführt werden. Ich denke z.B. an die koreanische Erstaufführung von Ligetis ‚Sippal, dobbal...‘, die die Schlagzeuger des SPO als erste Orchesterschlagzeuger überhaupt spielten. Das unglaubliche und geduldige Engagement – die Musiker nahmen unzählige, unbezahlte Überstunden auf sich – führte zu einem fantastischen künstlerischen Ergebnis.“
Was die Zukunft der Klassik in Korea angeht, so variiert die Aufbruchsstimmung je nach Standpunkt. CEO Jooho Kim ist verhalten optimistisch: „Ich sage nicht, dass die klassische Musik eine großartige Zukunft hat, aber sie ist ein wachsender Markt.“ Damit steht Korea besser da als manches Klassikstammland: „Anders als bei Ihnen liegt der Altersdurchschnitt unseres Publikums bei Mitte 30“, stichelt der Deutschland-erfahrene Musikmanager. „Trendy“ und „updated“ seien die Fans des SPO: „Wenn wir im Concertgebouw spielen, weiß die Blogger-Gemeinde am nächsten Tag wie’s war.“ Große Hoffnungen für das kreative Potenzial des Tigerstaats hegt Unsuk Chin: „Was ich mir in Korea erhoffe, wäre, dass kreative, unverbildete Köpfe – ähnlich den ‚American Mavericks‘ – sich entwickeln könnten. Korea wäre meines Erachtens ein Ort, an dem so etwas entstehen könnte.“