Ilja Stephan Musikpublizist

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Michel van der Aa - Multiplizierte Identitäten
Die Residenz von Michel van der Aa beim Klang!-Netzwerk wird fortgesetzt
in: Klang!-Magazin, März 2011.

Dass Ich ein anderer ist, wusste schon Arthur Rimbaud. Doch gemessen am Spiel mit vielfach multiplizierten Identitäten, wie es der Medienkünstler Michel van der Aa in seinen Werken betreibt, ist die binäre Schizophrenie des französischen Poeten geradezu übersichtlich. Ich bin viele andere, scheinen van der Aas Figuren zu sagen. Und wer ist Michel van der Aa? Das Hamburger Netzwerk Klang! zeichnet in der Saison 2010/2011 im Rahmen einer Residenz in Konzerten, Lectures und Meisterkursen ein Portrait des niederländischen Komponisten, Filmemachers, Textdichters und Label-Betreibers. Nach Kaija Saariaho und Georges Aperghis ist Michel van der Aa nun der dritten Composer-in-Residence, der über eine ganze Konzertsaison hinweg mit den verschiedenen Facetten seiner Arbeit dem Hamburger Publikum vorgestellt wird.

Man kann van der Aas künstlerische Konzeption wohl an keinem Werk so deutlich ablesen, wie an seinem jüngsten Musiktheaterwerk: „Book of Disquiet“: Nirgends ist sein Spiel mit Selbstreflexionen, die endlose Abbilder des Ich erzeugen und schließlich jede verlässliche Identität ganz hinwegdifferenzieren, virtuoser als im „Buch der Unruhe“. Van der Aa bringt hier das Leben und Arbeiten des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa auf die Bühne; der hatte sich systematisch in Alter-Egos aufgespalten. Pessoa schrieb seine Texte unter vielen verschiedenen Heteronymen; diese Pessoa-Avatare verfügten nicht nur über einen eigenen Stil, sondern ihr Autor erdachte ihnen sogar eigene Biografien. Veröffentlicht hat Pessoa diese Fragmente eines multiperspektivischen Universums zu Lebzeiten kaum. Doch nach seinem Tode fand man in einer Kiste mehrere Tausend Texte, die sich über 80 verschiedenen „Autoren“ zuordnen lassen. Dieses „Buch der Unruhe“ zeichnet das Bild eines sich selber mit manischer Genauigkeit beobachtenden Bewusstseins, das trotz – oder gerade wegen – dieser Selbstbespiegelung sich selber nie entkommen kann: „Ich bin stets hier, im Inneren, umschlossen von den hohen Mauern des Hofs meines Bewusstseins, meiner selbst. (...) Zwischen mir und dem Leben ist eine dünne Glasscheibe. So deutlich ich das Leben auch erkenne und verstehe, berühren kann ich es nicht.“ Es ist genau dieses Lebensgefühl, das van der Aa mit seiner Medienkunst in zahllosen Variationen reproduziert hat.

Gefangen in der Endlosschleife
Einen ersten Vorgeschmack auf van der Aas unbehagliche Welt hatten schon im März diesen Jahres zwei Konzerte gegeben: Das Ensemble Resonanz stellte im Rahmen der Reihe „Don’t push the sounds“ dessen kammermusikalische Werke vor. Hier ließ sich beobachten, wie der Medienkünstler die Elemente seines Musiktheaterkonzeptes schrittweise entwickelt hat: Echte, von Menschen gespielte Live-Musik; deren elektronische Aufzeichnung, Wiedergabe und Bearbeitung und das szenische Element gehörten dabei von Anfang an dazu. In „Here [in circles]“ für Sopran, Ensemble und Kassettenrecorder etwa besteht die Rolle der Sopranistin darin, sich und das Ensemble mit einem Kassettenrecorder aufzuzeichnen und wiederzugeben. Mittels der Vor- und Rückspultasten lässt die „Solistin“ das akustische Abbild ihrer selbst sich zig mal im Kreise drehen und mit den Live-Tönen verhaken, bis schließlich nicht mehr kenntlich ist, ob nun die Technik die Natur, oder die Natur die Technik nachahmt. – Dabei ist diese Befangenheit in der Endlosschleife schon ein Fortschritt: Im ersten Teil des „Here“-Zyklus steht die Solistin laut Regieanweisung noch stumm in einem Plexiglaskasten.

Es sind komplexe Hamsterräder aus Elementen der Wirklichkeit und deren optischen bzw. akustischen Verdopplungen, mit denen der Filmemacher und Komponist van der Aa uns die Ausweglosigkeit einer medial vermittelten Selbstbeobachter-Existenz vor Augen und Ohren führt. Die jüngste dieser Multimedia-Werke war ebenfalls im März zu bewundern: das neue Konzert für die Star-Cellistin Sol Gabetta wurde im Rahmen der Elbphilharmonie Konzerte auf Kampnagel aufgeführt. Dabei konfrontierte van der Aa die schöne, junge argentinische Solisten auf der Bühne mit ihrem um Jahrzehnte gealterteren Alter-Ego auf der Leinwand und zeigte zugleich die Unmöglichkeit eines „konzertanten“ Dialogs.

Auch im Mai und Juni werden sich van der Aas optophone Selbstbespiegelungen weiter durch die Konzertsaison multiplizieren wie Agent Smith durch die Matrix: So wird im Mai im Rahmen des off-Festivals „blurred edges“ das AKROS Percussion Collective zwei frühe Werke aus dem Jahr 1997 aufführen: „Between“ und „Wake“. In „Wake“ interagieren ein echter Schlagzeuger, der reale Töne produziert, und ein Pantomime, der zuerst nur seinen Kollegen imitiert, bis der „Luftschlagzeuger“ schließlich selbst die Initiative übernimmt und dem realen Drummer die Aktionen vorexerziert. Vorbild für „Between“ war eines jener chinesischen Elfenbeinkunstwerke, bei denen in eine zierlich geschnitzten Kugel mehrere andere, frei drehbare Kugeln eingearbeitet sind. Dieses Modell inspirierte van der Aa zu einem Live-Playback-Kanon zwischen Schlagzeug-Quartett und Soundtrack.

Höhe- und Endpunkt der Van-der-Aa-Saison wird im Juni die Aufführung seines Ensemble-Werkes „Mask“ im Rahmen des Holländischen Klang!-Fests an der Hochschule für Musik und Theater sein. In „Mask“ überlagert eine Schicht aus elektronischen Klängen eine rein instrumentale Grundschicht und maskiert und verwandelt deren Klang. Doch ab und an reißen Löcher in der elektronischen Zweitwirklichkeit auf und geben einen Blick auf den darunter liegenden „echten“ Instrumentalklang frei. Dieses akustische Spiel der Schichten wird auf der szenischen Ebenen reflektiert: Von einem Tisch, der über und über mit Klebeband beklebt ist, reißt der Schlagzeuger Lage um Lage herunter und löst damit immer neue Aktionen des Ensembles aus.

Für die Interpreten solcher Medien-Mobiles wird es am 20. Juni einen Meisterkurs mit dem Komponisten geben. Werk und Person Michel van der Aas werden außerdem am selben Tag in einem Lecture-Konzert mit Hochschulpräsident Elmar Lampson vorgestellt.
 
Der Medienkünstler als Editor
Michel van der Aa ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein Künstler aus einem elementaren Quellcode ein ganzes Œuvre und eine Künstlerpersona generieren kann. So zeigte ihn eines seiner ersten Künstlerfotos, wie er ein Abbild seines Gesichts zerreißt wie ein Blatt Papier, unter dem ein zweiter van der Aa zum Vorschein kommt. Und zu Zeiten, als er seine Website noch selber produzierte, nutzt er den eigentümlichen Doppelvokal seines Nachnamens spielerische als Web-Adresse: www.doubleaa.net. (Heute ist er im WWW nur noch unter der nüchternen Adresse www.vanderaa.net zu finden.) Auch Werktitel wie „Second self“ oder „Double“ belegen schon früh seine Obsession für Verdoppelungen und Kopien. Wenn van der Aa nun im Juni einen Meisterkurs für Komponisten geben wird, können dessen Teilnehmer vom Virtuosen der medialen Inszenierung also weit mehr lernen als nur musikalisches Handwerk.

Und auch die Teilnehmer der Konferenz „Komponieren heute“ müssen im Falle dieses ersten Großmeisters der MTV-Generation ihrer Kategorien sicher erweitern, denn mit dem Begriff des „Komponisten“ alleine ist einem wie van der Aa längst nicht mehr beizukommen. Dessen Studium umfasste eben nicht nur klassische Komposition bei Louis Andriessen, sondern auch eine Ausbildung zum Tonmeister und ein Regie-Studium an der New York Film Academy. Van der Aas Musik verdankt so den Denk- und Arbeitsweisen in einem Tonstudio weit mehr als dem Vorbild von Beethovens Sonaten. Meist ist es ein elementarer Akkordvorrat, den van der Aa durch Kopien, Schleifen, elektronische Verfremdung etc. zum Werk multipliziert. Und diese Musik wiederum steht selten für sich alleine, sondern in einem Kontext mit einer optischen bzw. szenischen Ebene. Die letzte und folgerichtige Konsequenz aus seinem künstlerischen Ansatz zog van der Aa als er 2010 seine eigenes Label, disquiet media, gründete. Dessen Ziel ist die Verbreitung eines „weiten Spektrums von Kunst, die fest im 21. Jahrhundert verwurzelt ist“, wie es in der Selbstdarstellung von disquiet media heißt.

Mit der Einführung eines Composer-in-Residence bei Klang! hat es sich eingebürgert, dass beim alljährlichen Klangfest an der Hochschule für Musik und Theater nicht nur Werke des Residenzkünstlers gespielt werden, sondern auch seinem Herkunftsland ein Länderschwerpunkt gewidmet wird. Also steht 2011 das hochsommerliche Musikfest unter dem Motto „Das goldene Zeitalter. Holländische Meister und niederländische Avantgarde“ und ehrt die Heimat von Vermeer, van Gogh und van der Aa. Neben niederländischen Altmeistern und Musik des Residenzkomponisten werden dabei u.a. auch Werke von dessen Lehrer Louis Andriessen zu hören sein. Die Musikhochschule mobilisiert außerdem alle ihre Sparten und Kräfte, Schauspieler, Musiktheater-Regisseure, Techniker, Spezialisten für alte, neue und multimediale Musik, um sämtliche Räume und Anbauten des ehrwürdigen Budge-Palais’ mit Klängen, Bildern und Poesie zu bespielen. Von den üppigen Stillleben niederländischer Genremaler hat man sich dabei offenbar zu einer besonderen Idee inspirieren lassen: Im Musikhochschulgarten mit Alsterblick wird für Kunst-Connaisseure ein Bankett aufgebaut, an dem sich ständig wechselnde Darbieter niederlassen und „en passent“ etwas zum besten geben sollen.