Eine weitere Obsession des Tôru Takemitsu war das gesprochene Wort. Wörter faszinierten ihn in ihrer doppelten Dimension als sinnliches Ereignis, d.h. als Klang, und als Träger von Bedeutungen. Wobei es ihm vor allem um jene – im Japanischen häufigen – Wörter ging, die gleich ausgesprochen, aber mit verschiedenen Schriftzeichen geschrieben, Verschiedenes bedeuten. Das Wort „iki“ etwa, das „stilistische Verfeinerung“ ebenso bedeuten kann, wie „leben“; oder „
ikeru“, dass ebenso „Blumen in eine Vase stellen“ wie „einen Leichnam beerdigen“ heißen kann. Diese mehrere z.T. konträre Bedeutungen vereinenden Wörter enthalten in nuce Takemitsus Philosophie des Lebens. Am meisten aber faszinierte ihn die Polysemantik eines zentralen Wortes der japanischen Musikästhetik: „sawari“.
Mit „sawari“ bezeichnet man die unreine Qualität eines Tones, dem so viele Störgeräusche beigemengt sind, dass er weniger wie ein exakt intonierter ,schöner‘, musikalischer Ton, sondern wie ein Naturlaut klingt. In der japanischen Musik gibt es eine besondere Vorliebe für solche Klänge, die reich und kompliziert genug sind, um isoliert stehen und dabei eine ganze klingende Welt in sich vereinen zu können. Auf die Kultivierung solcher Klänge hat man seit jeher große Mühe verwendet: In ein Elfenbeinstück am Hals der Laute „Biwa“ etwa werden eigens Rillen eingeritzt, in denen die Saiten liegen und gegen deren Ränder sie, wenn sie in Schwingung geraten, mit vernehmlichem Schnarren schlagen. Und die traditionelle japanische Gesangsausbildung erzielte das, was einen Joe Cocker Hektoliter an Whisky gekostet haben mag – eine Reibeisenstimme, mit der jeder Laut von gelebtem Leben kündet –, indem sie die Stimmbänder durch Freiluftübungen bei eisiger Kälte konsequent ,kaputtzumachen‘ wusste.
Das Wort „sawari“ selber kommt vom Verb „sawaru“ (berühren/anfassen), es meint also die unmittelbarste Art, in der wir eines Gegenstandes habhaft werden können. Zugleich aber wird, so schreibt Takemitsu, „sawari“ benutzt, um eine „Störung“ bzw. den weiblichen Zyklus zu bezeichnen. „Und diese ,Störung‘ ist“, so fährt er fort, „eine sehr wichtige Angelegenheit, durch die Kinder geboren werden. Ich spüre hier eine symbolische Beziehung: Wir machen durch einen Kunstgriff etwas, das die Klangerzeugung erschwert [...]. Und der Klang, den wir erzeugt haben, ist kraftvoll, vieldeutig, angefüllt mit Bedeutung und Leben.“
Der schon in den 1950er-Jahren schwer an Lungentuberkulose erkrankte Komponist – dessen grotesk-abgezehrte Gestalt Wada Makato noch 1990 mit der offenbar obligatorischen Zigarette portraitierte – hat sein Leben lang solche Klänge in aller Welt gesucht. In seiner ersten Schaffensphase bis ca. 1957 waren es vor allem europäische Vorbilder wie Olivier Messiaen oder Claude Debussy, die seine Musik prägten, und die Väter der Dodekaphonie, Schönberg und Webern, bei denen er sich technisches Rüstzeug entlieh. Alles was aus Japan selber kam, so gestand er später einmal, habe er dagegen „gehasst“. Die Entdeckung der Tradition seines eigenen Landes verdankte er dem Besuch eines „bunraku“ Puppentheaters – hier begegnete Takemitsu 1959 das erst Mal einer vom „sawari“-Effekt geprägten Musik. Unterstützt und ermutigt ausgerechnet von einem Amerikaner, John Cage, erschloss Takemitsu sich seit Anfang der 1960er-Jahre die Welt der traditionellen japanischen Instrumente ebenso wie die Klänge der westlichen Avantgarde. Und in dem für das New York Philharmonic geschriebenen Stück „November Steps“ (1967) schließlich stellte er die Biwa und die Bambusflöte Shakuhachi einem an Ligetis Clustertechnik geschulten Orchestersatz gegenüber.
Eine Forschungsreise nach Indonesien und die Begegnung mit der Musik der australischen Aborigines führten ihn ab 1972 nicht nur dazu, seinen Horizont endgültig auf die Musik (potenziell) der ganzen Welt zu erweitern, sondern auch zu einigen – bereits in „November Steps“ vorgeprägten – Gedanken über die (Un-)Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebenswelten und Traditionen. Als der Technik aufgeschlossener, moderner Mensch glaubte er einerseits, dass „die Kulturen der verschiedenen Völker zu einer Synthese verschmelzen, dass die Menschheit zu einer umfassenden Kultur im globalen Maßstab finden wird“. Andererseits sah er hierin den Untergang vieler alter und kostbarer Dinge voraus. Die Musik der Aborigines etwa faszinierte ihn deshalb, weil er bei ihnen zwischen Lebensvollzug und Musik-Machen keinen Unterschied sah: Musik war ihnen nicht Ausdruck individueller Gefühle, sondern eine Zeremonie und somit Teil eines über das Individuum hinausgehenden gesellschaftlichen Ritus. Hörbar wurde dies für Takemitsu im Klang des Didjeridu, das kein vom Menschen für seine Zwecke speziell hergestelltes Musikwerkzeug, sondern ein von Termiten ausgehöhlter Baumstamm ist. Aus dem Klang dieses ,Instruments‘ sprach für ihn die Natur, das Leben selber. – Dass man aber die Gesellschaft der Aborigines nicht beliebig verpflanzen und dass ihre Musik an ihre Art zu leben gebunden ist, war Takemitsu wohl bewusst; er unterschied sie daher als ortsgebundene, „untransportierbare“ Musik von „transportierbarer“ Konzertmusik westlichen Zuschnitts.
Takemitsus kompositorisches Grundanliegen kann man in allen Perioden seines Schaffens darin sehen, (im Wesentlichen) mit den Mitteln des westlichen Instrumentariums und in den Kategorien der Konzertmusik Klänge zu realisieren, die ebenso reich und tief sind, wie er sie in der japanischen Tradition oder noch später im erdigen Klang des Didjeridu erfahren hat. Der Musikjournalist Bernard Brands verglich den überquellenden, zu einer diffusen Einheit verschmelzenden Detailreichtum seiner Orchesterbehandlung mit den Millionen Nuancen von Rot in einem Sonnenuntergang. Ein besondere Konsequenz dieser klanglichen Delikatesse von Takemitsus Musik ist dabei ihre Zeitgestaltung: Seine in sich komplexen Klänge lassen sich nicht in Kontrapunkten übereinanderschichten; sie stehen isoliert, brauchen Dauer um sich zu entfalten und Stille, in der sie nachhallen und von der sie sich abheben können. Takemitsu entwickelte dafür seit seinen ersten Werken einen von ihm so genannten „Von-Augenblick-zu-Augenblick-Rhythmus“; seine Klänge atmen ein und aus; sie steigen aus der Stille heran, kippen auf ihrem dynamisch gesteigerten Höhepunkt, und vergehen – oft über einer lang nachhallenden Bassoktave. Die Lautstärke und das äußerst flexible gehandhabte Tempo unterstreichen diese Bewegung.
Noch wichtiger als die feine Gestaltung von Tempo und klanglichen Valeurs aber ist für den Interpreten das richtige – in der Notation bewusst nie präzisierte – Verhältnis von Pausen und Klang. Die Stille, also der Abstand zwischen den einzelnen Klängen, wird in der japanischen Musikästhetik als „ma“ (Abstand/Pause) bezeichnet, sie ist eine zentrale Kategorie der traditionellen Musik. Das „,ma‘ zu beleben“, also von Aufführung zu Aufführung, je nach akustischen Gegebenheiten und der Befindlichkeit von Musikern und Publikum eine neue Balance zwischen Klang und Leere zu finden, ist die entscheidende, weil Leben d.h. Unvorhersehbarkeit in die Musik bringende Aufgabe des Interpreten. Wird sie im Sinne des Komponisten gelöst, lässt sich in Takemitsus Musik das erfahren, was er selber als das Hauptanliegen seiner (und aller menschlichen Kunst) bezeichnet hat: Die „Rebellion“ gegen die „dunkle Welt des Todes“.