Ilja Stephan Musikpublizist

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Kurt Masur - "Musiker verdienen ihr Geld schwer"
in: Welt am Sonntag, 30.3.2003, Hamburg-Teil, S. 91.

Ein Journalisten-Kollege hat die Situation der sieben Londoner Orchester mal als "Konkurrenzkampf im Haifischbecken" bezeichnet, geht es dort so wüst zu?

Kurt Masur: Von "Haifischbecken" kann nicht die Rede sein, dazu ist man zu sehr dazu übergegangen, miteinander zu denken. Als ich 1967 das erste Mal nach London kam, konnten sie dort an einem Abend drei verschiedene Orchesterkonzerte hören. Dann kam eine Zeit, in der man vom jeweils anderen behauptete, er müsse raus, London hätte zu viele Orchester. Das ist heute einer Fairness gewichen, die ausweist, dass alle Orchester lebensfähig sind, aber sie müssen sich unheimlich schwer ihr Geld verdienen. Das London Philharmonic hat eine ganz, ganz geringe Unterstützung staatlicherseits, aber es hat seine Residenz in der Royal Festival Hall und ist ständiges Orchester des Opern-Festival in Glyndebourne. Das hat ihm einen Rückhalt gegeben, dass es existieren kann - aber in einer erstaunlichen Form.

Erstaunlich?
Masur: Der Verwaltungsrat besteht aus Musikern, die verteilen in wirklich demokratischer Weise die Gelder so, dass das Orchester lebensfähig bleibt, aber mit sehr harten Bandagen. Wenn einer krank wird, kann er nicht bezahlt werden, weil für das Geld ein Ersatzmusiker eingestellt wird. Der letzte Urlaub war der erste in der jüngeren Geschichte des Orchesters, der bezahlt wurde. Es gibt keine Unterstützung im Sinne einer Krankenversicherung, und die Sicherheit der Musiker etwa auf Reisen ist lange nicht so, wie deutsche Orchester das fordern würden.

Ihre Musiker sind Freiberufler und werden "pay per call" auftrittsweise bezahlt?
Masur: Ja, genau. Es ist erstaunlich, wie sie zusammenhalten. Es ist eine Familie von Idealisten, wie man sie sich als Partner nur wünschen kann.

War die Situation immer so, oder ist das die Konsequenz der Kulturpolitik der letzten Jahre?
Masur: Das ist die Konsequenz. Es hat auch den Grund, dass das Einkommen der Londoner im Normalfall so zurückgegangen und die Preise so gestiegen sind, dass ein Familienvater es sich gar nicht leisten könnte, mit seinen Kindern ins Konzert zu gehen - was früher ohne weiteres der Fall war. Deswegen haben wir heute fast durchgehend ein anderes Publikum. Die so genannten Proms-Konzerte in der Royal Albert Hall etwa, die billiger sind und nur in den Sommermonaten stattfinden, sind durchweg ausverkauft, obwohl der Saal im Höchstfall 9000 Leute fasst. Es ist also ein lebendiges Musikleben geblieben.

Der Finanznot zum Trotz haben britische Orchester eine vorbildliche Jugendarbeit, in Deutschland ist so etwas eine Seltenheit.
Masur: Ich bedaure, dass die deutschen Orchester diese Rolle nicht übernommen haben. Jeder ist leidtragend, dass wir an den Elementarschulen keinen Musikunterricht mehr haben. Und dann kommen von überall her die Vorwürfe, klassische Musik würde sich nicht verkaufen. Warum denn nicht? Wenn wir unsere jungen Leute wie die Wilden aufwachsen lassen, dann werden sie nach dem greifen, was sich ihnen zuerst bietet, das ist Entertainment im Fernsehen und aufregende, laute, aufpeitschende Rhythmen - das Nachdenken bleibt auf der Strecke. Wir werden Verluste haben im Bereich der Potenz im Geistigen. Ich überlege im Augenblick, einen offenen Brief an Zeitungen zu schreiben: Wenn wir in Deutschland auf Grund der erschreckenden PISA-Studie demnächst neue Ganztagsschulen einrichten, dann sollten diese Lehrpläne haben, bei denen man sich im Klaren ist, dass Kinder, die Musik lieben gelernt haben - z.B. beim gemeinsamen Singen -, viel leichter erziehbar sind als andere, die ihre Freizeit vorm Fernseher verbringen.

Hier in Hamburg hat Ingo Metzmacher in diese Richtung zumindest einiges angestoßen - das erledigt sich nun in Bälde.
Masur: Das ist ein Jammer, denn wissen sie, es klappt eigentlich überall. Ich kann es beweisen, von all den Stationen, die ich durch habe - und zwar zu allen Zeiten, ob das im sozialistischen Bereich war oder im freien Deutschland -, es sind dieselben Erscheinungsformen. Wenn wir die jungen Leute nicht so bilden, dass sie alles lieben, was schön ist im Leben, dann werden sie nur lernen, möglichst schnell gutes Geld zu verdienen und das schönste und neuste Auto zu fahren. In New York haben wir versuchsweise angefangen, die Generalproben zu öffnen, am Schluss hatten wir übers Jahr verteilt mehr als 30 öffentliche Proben. Das hat dazu geführt, dass auch die zeitgenössische Musik von einem großen Teil des Publikums viel leichter begriffen wurde. In Frankreich gibt es eine enorme Liebe zum Theater, die Opern haben dort überhaupt keine Probleme, die symphonische Musik dagegen hat zwar ein Publikum, aber man muss es sich erziehen. Das kann jedes Orchester, und das sollten in Deutschland eigentlich auch alle Orchester zu einem Schwerpunkt machen.

Um auf Ihr Hamburger Programm zu kommen, das bietet mit Tschaikowskys "Pathetique" und Beethovens Achter ja nun zwei hundertprozentig sichere Sachen.
Masur: Ich hätte auch gerne versucht, ein zeitgenössisches Stück mitzubringen - Dutilleux' "Shadows of Time" etwa würde wunderbar passen zu Tschaikowsky. Aber das wird von den meisten Veranstaltern nicht akzeptiert, die haben immer Angst, dass sie nicht genügend Karten verkaufen. Wir sind leider heute viel mehr vom Marketing und vom Kommerziellen abhängig als früher, und es gibt wenige Veranstalter, die sich mitverantwortlich fühlen, dem Publikum auch mal was anderes anzubieten.

Bei Tschaikowskys Sechster ist der autobiografische Bezug seit langem bekannt, Ihre Beethoven-Deutung geht in eine ähnliche Richtung?
Masur: Was ich getan habe, ist, dem Programm eine einheitliche Linie zu geben. Bei Beethovens Achter wissen wir seit über zehn Jahren, wann der Brief an die "Unsterbliche Geliebte" geschrieben wurde, das fällt in die Zeit der Arbeit an diesem Stück. Was man leicht konstruieren kann, ist, dass Beethoven ein wahnsinniges Glücksgefühl empfunden haben muss, als er die Achte komponierte. Das war die Symphonie aus seiner glücklichsten Zeit - bis er jenen Brief schreiben musste, der nicht nur den Abschied von einer Frau bedeutet hat, sondern von der Liebe selbst. Die Einsamkeit, die danach entstand, muss furchtbar für ihn gewesen sein. Neun Jahre lang ist er völlig unfähig gewesen, ein großes Orchesterwerk zu komponieren, dann kamen die "Missa Solemnis" und die Neunte. Ein solcher Hymnus an die Hoffnung der Menschheit, komponiert in Taubheit und Krankheit, entsprach seiner eigenen Vision, in Freude und Harmonie leben zu können.

Wenn Sie um diese Bezüge nicht wüssten, was hätte sich an Ihrer Art, die Achte zu spielen geändert?
Masur: Ich wäre ein bisschen ratloser gewesen, weil ich erst jetzt begreife, wie er zu dieser Heiterkeit überhaupt kommen konnte. Beethoven hat seine Symphonien geschrieben als ein Spiegelbild der Zeit, beeinflusst von Geist der französischen Revolution. Durch die Biografie und die Bezüge zu seinem Leben habe ich erst begreifen gelernt, wie verschieden Beethovens neun Symphonien in ihrer Grundhaltung sind. Und je mehr man darüber weiß, um so mehr begreift man, dass die Heiterkeit in der "Pastorale" oder der Achten so echte Glücksmomente beinhaltet, wie es sie eigentlich nur bei einem ernsten Mann geben kann. Das große Wunder an der Achten ist, dass er darüber hinausgeht und sich Späße erlaubt, wie sie sonst allenfalls Haydn in seinen Symphonien gemacht hat.

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