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Toshio Hosokawa - "Blumen, die auf Schweigen blühen"

Die selbst gewählte Aufgabe des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa ist die „Suche nach einer neuen Form spiritueller Kultur und Musik des japanischen Volkes“ mehr...


Toshio Hosokawa - Rezension

Die 15 Gespräche mit Toshio Hosokawa, die Walter-Wolfgang Sparrer zwischen 2008 und 2009 mit dem japanischen Komponisten führte, sind Zeugnis eines Dilemmas: „Ich fühle mich sehr wohl in Europa“, bekundet Hosokawa, „aber manchmal denke ich, was mache ich hier?“ mehr...

Eine Insel der Seligen?
Zu Toshio Hosokawas Oper „Hanjo“
in: Programmheft Schleswig-Holstein Musik Festival, August 2005.

In einem kurzen Einführungstext zu „Hanjo“ hat Toshio Hosokawa den doppelten Anspruch formuliert, den er an sein zweites Musiktheaterwerk gestellt hat: „Ich wollte, dass meine neue Oper einerseits eine Verbindung mit den Formen des traditionellen japanischen Nô- und Kabuki-Theaters hat, andererseits aber sollte sie auch bei einem zeitgenössischen Publikum Resonanz finden können (...). Also habe ich für ,Hanjo‘ mein eigenes Libretto auf der Basis des gleichnamigen Nô-Spiels von Yukio Mishima geschrieben.“ In „Hanjo“ greift Hosokawa auf ein sechshundert Jahre altes nationales Kulturdenkmal Japans, das Nô-Theater, zurück; diese Vorlage wird gesehen durch die Optik eines der bedeutendsten japanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts; die Oper selbst ist auf ein englischsprachiges Libretto komponiert und wurde 2004 beim dem Festival im südfranzösischen Aix-en-Provence uraufgeführt. Bereits diese ,Rahmendaten‘ von Hosokawas Oper spiegeln deren Thema: die Spannung zwischen dem Befangen-Bleiben in einer streng verfassten Innenwelt und der Öffnung zur Außenwelt.

Die Geschichte des Nô-Spiels reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Kostüme, Masken, Gesten, die Bühne, jede Facette dieser ehrwürdigen Musiktheaterform ist bis ins kleinste Detail kodifizierte, so dass sie geradezu als Inbegriff des Zeremoniellen gelten kann. In dieser langsamsten aller Theaterformen scheint die Zeit buchstäblich stehen geblieben zu sein; sie ist das lebende Denkmal des feudalen Japan. Doch ganz so dem Gang der Zeit und dem Wandel enthoben, wie die hieratische Aura dieser Kunst glauben lässt, war auch das Nô-Spiel nicht. Hervorgegangen ist es aus dem Volksschauspiel sarugaku, und bis heute erinnern possenhafte Zwischenspiele, die kyôgen, an die Abkunft der edlen Kunst aus der Jahrmarktsbelustigung. Den ersten Schritt auf dem Weg zu dem, was das Nô-Spiel später sein sollte, taten Kan’ami Kiyotsugu und sein Sohn Zeami Motokiyo Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts. Als Schauspieler, Dramendichter und Theoretiker in einem, prägten sie die Gestalt und das Repertoire dieser Kunstform.

Statt der realistischen Schilderung einer Handlung ging es ihnen um das psychologische Geschehen. Als stilistisches Ideal galt dabei eine „geheimnisvolle Anmut“ (yûgen), die mehr ahnen ließ als sie offen aussprach. Von dem Schauspieler wurde erwartet, dass er so tief in das Wesen seiner Rolle eindrang, dass sein Spiel das Publikum zu jener Wesensschau der Dinge in einer Haltung innerer Distanziertheit führte, die Zeami „Blüte“ (hana) nannte. Dabei unterschied man zwei Typen von Dramen, die mugen-nô, die in der Welt der Geister und des Traumes spielten, und die genzai-nô, die in der realen Welt verblieben. Die Stücke gliederten sich in fünf Szenen (dan), die in einem Spannungsbogen (Einleitung, Mittelstück und Finale) angelegt waren.

Erst in der Edo-Zeit (1603 – 1867) vollzog sich dann der endgültige Wandel zur offiziellen Zeremonialkunst unter der besonderen Protektion der Shogune. Man begrenzte das Repertoire nun auf ca. 200 Stücke, alle Elemente der Aufführungspraxis wurden streng kodifiziert und die Spieldauer der quasi in ,Zeitlupe‘ aufgeführten Stücke dehnt sich auf das Dreifache. In dieser rituellen Form hat das Nô-Spiel bis ins 19. Jahrhundert fortbestanden. Doch mit dem Ende des Shogunats 1867 wurde auch dessen Hofkunst fragwürdig. Zudem machten sich seit der erzwungenen Öffnung des Jahrhunderte lang isolierten Inselreiches (1853) immer stärker westliche Einflüsse bemerkbar: Wer auf sich hielt, trug bald Anzug und hörte Walzer. Sein Überleben verdankte das Nô-Spiel kurioserweise gerade dieser Vorliebe für Westliches. 1879 besuchte der amerikanische General Ulysses S. Grant die Aufführung eines Nô-Spiels und zeigte sich begeistert: „Das müssen sie pflegen und bewahren“, soll er seinen Gastgebern geraten haben. Und die waren geneigt, seinem Rat zu folgen, weil westliche Opern in Japan sich wachsender Beliebtheit erfreuten und man das altehrwürdige Nô-Spiel seiner äußerlichen Ähnlichkeit zum europäischen Pendant wegen als konservierungswürdig einstufte.

Wo man im 20. Jahrhundert versuchte, die alte Kunst wiederzubeleben, stand dies meist in einem nationalistischen Kontext – während des Zweiten Weltkrieges etwa bemächtigte sich die Kriegspropaganda dieses Genres. Ganz frei von solchen Erwägungen dürfte auch Yukio Mishima nicht gewesen sein. Zwischen 1950 und 1955 schrieb Mishima sechs moderne Nô-Spiele auf der Basis traditioneller Vorlagen. Mishima hat wie kein Zweiter die inneren Widersprüche des modernen Japan verkörpert: Er gelangte zu internationaler Bekanntheit und führte das Leben eines urbanen Intellektuellen, seinen Tod aber inszenierte er nach feudaler Kriegersitte. Begeleitet von den Angehörigen seiner paramilitärischen „Shield Society“ (SS) stürmte er am 25. November 1970 eine Militärkommandantur, hielt vor erstaunten Rekruten ein flammendes Plädoyer zur nationalen Wiedererstarkung Japans und beging anschließend Seppuku, den rituellen Selbstmord der Samurai.

Für sein Nô-Drama „Die getauschten Fächer“ griff Mishima auf die Vorlage von Zeamis „Hanjo“ zurück. – Die Dame Hanjo ist eine Figur der klassischen chinesischen Literatur, deren Fächer Gegenstand zahlreicher Gedichte war; solche literarischen Subtexte machten für den Kenner seit je den besonderen Reiz der Nô-Dichtung aus. In „Hanjo“ wird die Geschichte einer dem Wahnsinn verfallenen Frau erzählt, deren Lebensinhalt im Warten auf ihren Geliebten besteht, mit dem sie vor langer Zeit als Unterpfand ihrer Liebe die Fächer ausgetauscht hatte. Als eines der wenigen Nô-Dramen hat Zeamis „Hanjo“ ein Happy End: Der Geliebte kehrt heim, die Fächer werden zurückgetauscht und er erlöst die Wartende aus der Isolation ihrer Wahnwelt. Genau an diesem Punkt greift Mishima am stärksten in die Vorlage ein: Er überträgt das Drama der Feudalzeit nicht nur ins moderne Japan und erweitert es mit der Figur der Malerin Jitsuko um die Künstlerthematik, er verkehrt vor allem Zeamis Pointe in ihr Gegenteil. Hanako erkennt den Geliebten Yoshio nicht mehr, als dieser schließlich erscheint, lehnt sie den Fächertausch ab. Sie zieht die Rituale des Wartens und das Träumen von einem Geliebten jeder profanen Realität vor.

„Die Essenz des Nô-Theaters und seiner Musik zu erfassen und daraus etwas Neues (zu) schaffen, ohne es nachzuahmen“, dies hatte Hosokawa bereits für seine erste Oper „Vision of Lear“ (1998) als Anspruch formuliert. Dabei griffen der Komponist und sein Librettist Tadashi Suzuki auf einen Stoff von Shakespeare zurück; doch war ihr aktualisierter Lear der Insasse einer Nervenheilanstalt, das Drama die Projektion der Wahnwelt eines alten Mannes. „,Hanjo‘ ist geschrieben, als wäre es ein Traum. Hanako lebt in einer Welt des Wahnsinns“, sagt Hosokawa auch von seiner zweiten Oper. Beide Sujets sind also erkennbar nach dem Vorbild der „Traumspiele“ des Nô gewählt. Für sein Libretto zu „Hanjo“ hat Hosokawa sich eng an Mishimas Version angelehnt und dessen modernes Nô-Spiel nur leicht gekürzt. Die Oper gliedert sich nach dem Vorbild der klassischen Dramen: Einem orchestralen „Preludio“ (1. Szene) folgen fünf Szenen, die sich aus dem Wechsel der Personenkonstellationen ergeben: 2. Szene „Jitsuko’s room“ (Jitsuko alleine); 3. Szene „Jitsuko & Hanako“; 4. Szene „Yoshio & Jitsuko“; 5. Szene (Yoshio und Hanako); 6. Szene (Jitsuko und Hanako).

Das zentrale Wort der Oper lautet „warten“; alles dreht sich ums Warten, ihr Heil er-warten sich die beiden Protagonistinnen davon, dass alles bleibt, wie es ist. Hanako vollzieht den täglichen Gang zum Bahnhof als Ritual des Wartens, ihre einzige Angst ist, dass der Geliebte sie verpassen könnte, wenn sie nicht auf ihrem Posten ausharrt. Die Malerin Jitsuko, die Hanako aus ihrer Geisha-Existenz freigekauft hat, fürchtet dagegen nichts mehr als die Wiederkehr von deren Geliebten. Sie hat sich einen „hortus conclusus“ geschaffen, in dem sie Hanako als erotisches Kleinod zärtlich hütet. In diese homophile Verwöhngemeinschaft poltert der Mann Yoshio als lärmende, präpotente Personifizierung des Realitätsprinzips und Agens möglicher Veränderung hinein – und wird zurückgewiesen. Die Künstlerin und ihre Muse bleiben sich selbst genug.
„Ich hasse die westlichen Opern des 19. Jahrhunderts. Ich vermag dort keinerlei wirklichen Einklang zwischen Musik, Libretto und Szene zu erkennen. Unser traditionsreiches Nô-Theater hat eine sehr viel engere Verbindung zwischen Musik und Bühnenaktion“, so hat Hosokawa einmal bekundet. Der westlichen Kritik erging es mit seiner zweiten Oper bei deren Uraufführung 2004 allerdings nicht viel besser: Man monierte einhellig, dass die Musik neben der Bühnenhandlung ohne erkennbaren Zusammenhang herlaufe. Tatsächlich ist das Verhältnis von Musik und Szene ein ganz anderes, als man es von der westlichen Oper gewohnt ist. Hosokawas Musik malt die Handlung nicht nach, sie psychologisiert nicht, sondern Musik und Szene sprechen parallel aber unabhängig voneinander in ihrer jeweils eigenen Sprache von derselben Sache.

Die Musik zu „Hanjo“ bietet das vollendete Bild einer in sich geschlossenen Welt: die Großform ist zum Kreis geschlossen, das aus dem Nichts mit Atemgeräuschen der Holzbläser anhebende „Preludio“ kehrt am Schluss der 6. Szene wieder. Wurde das Orchester in der ersten Szene aber noch von einem akustischen Fremdkörper gestört – dem vom Band zugespielten Lärm des Zuges, dem der fatale Yoshio entsteigen wird –, ist dieser Dynamik und die Welt der technischen Moderne repräsentierende Klang am Schluss eliminiert. Die auskomponierte Statik seiner Musik lässt sich vor allem an Hosokawas Umgang mit der Singstimme ablesen: Nach dem Vorbild des Nô-Gesangs psalmodieren die Sänger vor allem auf einem einzigen Ton. Die meisten Phrasen etwa beginnen auf einem es und schließen auf demselben Ton. Der Tonvorrat der Sänger ist auf die Töne es-fis-a-c-(es) begrenzt – auch sie ergeben einen Zirkel, der nach vierten Ton wieder in seinen Anfangston zurückläuft. Nur in Momenten äußerster Intensität weichen die Gesangslinien für einen flüchtigen Moment um einen Halbton nach oben oder unten von diesem starren Gerüst ab. In ähnlicher Weise ist auch der Orchesterklang von einem „Mutterakkord“ geprägt. Dieser Zentralklang, am Anfang der 2. Szene in Celesta und Harfe gut zu hören, wird vom Orchester zwar in der differenziertesten Weise ausgeleuchtet, aber nie verlassen, sondern zu einer unendlich langsam changierenden Fläche ausgebreitet.

Es sind stets nur Nuancen im scheinbar uniformen Klangstrom, denen Hosokawa eine ganze Welt von Ausdruck und Bedeutung anvertraut: Wo Jitsuko etwa von ihrer ersten Begegnung mit der verwirrten Hanako berichtet (Szene 4: „I fell in love with her at first sight“), scheint aus dem Klangstrom als klingendes Symbol dieser Liebe ein Intervall auf, das zuvor noch nicht heraustrat: die reinen Quinte. Dass diese Liebe aber etwas Einseitiges sein könnte, dass sie nur für Jitsuko Erfüllung, für Hanako aber ein Gefängnis ist, lässt die Musik am Ende ahnen. Nachdem die Frauen in ihrem Schlussduett die Endgültigkeit ihrer Lebensordnung besungen haben (Jitsuko: „Oh, wonderful life, oh!“ / Hanako: „Today has grown dark too, uh.“) treffen sie sich, unterstützt von Trompete und Posaune, auf dem Schlussklang einer Quinte c-g. Nur der letzte, schmerzliche Laut Hanakos „uh“ bleibt um eine Nuance, einen Viertelton, gegen die vollkommene Konsonanz verstimmt. Der letzte Klang der beiden besiegelt eine Welt, die geschlossen und in sich ruhend bleiben wird – bis auf den winzigen Misston in der Stimme einer Verrückten.