Ilja Stephan Musikpublizist

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Esa-Pekka Salonen - "Musik ist ein biologisches Phänomen"

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Esa-Pekka Salonen - Kontakte mit der dunklen Seite
in: Welt am Sonntag, 16.3.2003, Hamburg-Teil, S. 85.

In Ihrem Programmtext zu "Insomnia" bezeichnen Sie das Stück als eine Folge von Variationen, nach den im letzten Jahr hier in Hamburg zu hörenden "LA Variations" also erneut ein Variationensatz - spielt die Variation in Ihrem Denken eine so große Rolle?
Salonen: Ja, unbedingt. Aber ich gebrauche das Wort "Variation" in einem sehr weiten Sinne. Die Art von Variationstechnik, die ich benutze, hat mehr zu tun mit einer Metamorphose, bei der die gesamte Gestalt sich ändert und aus Dingen andere Dinge werden. In der klassischen Variation hören sie untergründig immer noch das Original durch, bei der Metamorphose ist es dagegen wie beim Schmetterling, der sich von der Larve über das Puppenstadium zum Falter wandelt, und doch haben alle denselben genetischen Code. Meine Variationstechnik, besonders in "Insomnia", beruht auf solchen Metamorphosen. Mich interessiert der Gedanke sehr, wie aus Gestalten andere Gestalten hervorgehen, während sie dieselbe DNA behalten - wenn also die Erscheinungen sich radikal verändern, das Material aber gleich bleibt. Hierin unterscheidet sich meine Musik von der serieller Komponisten.

In Verbindung mit Ihrer Musik sprechen Sie häufig von musikalischen Archetypen, etwa dem Choral oder der Maschine, welchen Zweck erfüllen diese Archetypen?
Salonen: Archetypen sind für mich eine Art, mit der Tradition umzugehen. Auf diese Weise habe ich eine Anzahl grundlegender Kategorien, die eine Beziehung zu historischen Modellen und Gestiken haben. "Maschinen" finden sie bei Beethoven natürlich nicht, aber sie finden Ostinati, und die beiden Dingen haben - auf einer bestimmten Ebene - eine Menge gemein. Also, vielleicht existieren solche Archetypen ja in der gesamten Geschichte der westlichen Kunstmusik. Für mich war es natürlich und hilfreich, Formen zu kreieren, die auf solchen Archetypen beruhen. Ich entwickle diese Modelle von Stück zu Stück weiter, aber in einem gewissen Sinne bleiben sie stets gleich - (lacht) das ist das Mindeste, was sie von einem Archetyp erwarten können. Es ist eine Art, musikalischen Ausdruck und Texturen in Typen und Kategorien zu unterteilen, um mit ihnen arbeiten zu können.

Verbinden Sie mit diesen Typen von Musik semantische Assoziationen, mit dem Choral z.B. religiöse Gedanken?
Salonen: Nein, nicht im Sinne außermusikalischer Bedeutungen. Ein Choral bedeutet für mich im Wesentlichen homophone Musik, es ist ein musikalischer kein expressiver Archetyp. Ein Choral ist eine musikalische Textur, in der das Hauptelement die Harmonik ist.

Im Vorfeld der Uraufführung war zu hören, die Ursprungsidee von "Insomnia" sei Ihnen durch Beethovens viertes Klavierkonzert gekommen?
Salonen: Als ich mit Christoph Eschenbach über diesen Auftrag sprach, habe ich ihn gefragt, welches die anderen Stücke im Programm sein würden. Und als ich hörte, dass Beethovens G-Dur-Konzert gespielt wird, dachte ich, dass man das irgendwie harmonisch verbinden könnte. Das Faszinierende an Beethovens Konzert ist ja die Eröffnung des Klaviers in G-Dur und die Antwort des Orchesters eine kleine Terz höher in B-Dur. Es besteht da tatsächlich eine Beziehung zu "Insomnia", aber es bräuchte ein Genie, das zu sehen. Bei Takt, ... einen Moment (holt seine Skizzen) ..., es ist genau bei Takt 175 - 177, wo die Harmonik auf G und B zur Ruhe kommt. Das ist alles was, von Beethoven übrig ist. Es war einer der ersten Teile, die ich komponiert hatte; ich dachte damals, ich könnte ein ganzes Stück über dieses harmonische Verhältnis schreiben, aber dann hat es sich doch ganz anders entwickelt.

An der Instrumentation Ihres Stückes fällt vor allem das Wagnertuben-Quartett auf, da denkt man natürlich sofort an Wagners "Ring" oder Bruckners Siebente.
Salonen: Vom Standpunkt des Klanges aus, ist "Insomnia" von all meinen Stücken dasjenige, das der deutschen Tradition am nächsten steht. Ich habe den Klang der Wagnertuben immer geliebt, und ich weiß ganz genau, warum Wagner dieses Instrument eingeführt hat: Es gibt eine akustische Lücke im Sinfonieorchester, weil in der Region der kleinen Oktave nicht genug power ist. Wenn sie große Akkord für Sinfonieorchester schreiben und einen satten Bass haben wollen, fehlt da etwas. Wagner - Genie das er war - ließ seine Tuben bauen, um diese Lücke zu füllen; so haben sie im Blech einen gleichmäßigen Klang in allen Registern. Ich liebe Bruckners Siebente gerade des dunklen, metallischen Klanges der Wagnertuben wegen, und ich wollte schon immer mal etwas für sie schreiben. Da "Insomnia" für ein deutsches Orchester mit einer großen Bruckner-Tradition komponiert ist, dachte ich mir: Das macht Sinn. Aber es gibt keine Wagner- oder Bruckner-Zitate und auch keine Nostalgie - ich bin kein sonderlich nostalgischer Typ.

Ihr neuestes Stück hatte zuvor noch zwei andere Titel, "Suntory" und "Nox", warum heißt es jetzt "Insomnia"?
Salonen: Das Stück wurde von der Suntory Foundation und dem NDR in Auftrag gegeben und deshalb gab es eine Reihe von Namen. "Nox" war der Arbeitstitel, aber als ich mit dem Stück fertig war, wurde mir klar, dass "Insomnia" präziser ist. "Nox" meint nur "Nacht", aber das Stück hat nichts von einem Nocturne, es geht mehr um die Angst und das Gefangen-Sein in Zwangsvorstellungen. Es ist eine Art von zwanghafter Bewegung, in die sie hineingesogen werden, und der sie nicht entkommen. In dem Moment, wo sie den Gedanken zu entkommen meinen, verwandeln sie sich - eine Metamorphose von Zwangsvorstellungen.

Sie haben Ihr Saxofon-Konzert mit Untertiteln aus Kafkas "Der Prozess" versehen und das Solostück Yta III behandelt die tödliche Liaison einer Motte mit einer Kerzenflamme - sind solch abgründige Sujets eine besondere Leidenschaft von Ihnen?
Salonen: Ich vermute, Kreativität ist für die meisten Künstler eine Art, mit allen Seiten ihres Bewusstseins in Verbindung zu treten. Einer der Tricks dabei ist, "abgründige Sujets" als Material und Inspiration für ein Kunstwerk zu nutzen. Also, in diesem Sinne bin ich definitiv im Kontakt mit der dunkleren Seite meiner Psyche. Außerdem, denken Sie an den Zustand der Welt: Nach dem 11. September ist alles viel komplizierter geworden. Bestimmte Dinge, die wir für selbstverständlich gehalten hatten, gelten nicht mehr. Die dunkle Seite in "Insomnia" ist - auf einer bestimmten Ebene - ein Spiegelbild dessen. Menschen auf beiden Seiten des Atlantik leben in einem Zustand der Unsicherheit und Angst. Und die Regierungen werden mit dem Problem offenkundig nicht fertig - zumindest die US-Regierung nicht. Es ist eine dunklere Welt im Moment.

Für Ihr Orchesterstück "Foreign Bodies" haben Sie auf Material aus "Dichotomie" für Klavier solo zurückgegriffen, gibt es zwischen "Insomnia" und einem früheren Ihrer Stücke eine ähnliche Beziehung?
Salonen: Mein Stück "Lachen verlernt" (2000) für Violine solo hat eine sehr enge Beziehung zu "Insomnia". Es ist eine Art von kinetischer Energie in dieser Musik, aber sie ist nicht ... glücklich. Energetisch aber nicht glücklich, energetisch mit einem Unterton von Panik und Zwanghaftigkeit. Eine Bewegung, die nicht Ausdruck der Freude ist, sondern physischer Ausdruck einer Manie. Es gibt ein sehr virtuoses Solo für den Konzertmeister in "Insomnia", das unmittelbar aus "Lachen verlernt" hervorgegangen ist.

Sie benutzen im Gespräch häufig deutsche Worte, Kafka wurde schon erwähnt, und an anderer Stelle vergleichen Sie als Finne in LA sich auch schon mal mit Tonio Kröger - in deutscher Literatur sind Sie offenkundig sehr bewandert?
Salonen: Ja, ich bin ein großer Bewunderer von Thomas Mann, und ich habe meinen Schopenhauer und meinen Nietzsche gelesen und Wagner natürlich. Für uns Finnen ist der Einfluss der deutschen Kultur sehr stark - im Guten wie im Schlechten, aber mehr im Guten. Thomas Mann beschäftigt mich auch deshalb, weil er hier in LA war, wir wären praktisch Nachbarn gewesen. Aus naheliegenden Gründen bin ich sehr daran interessiert, zu sehen, was aus den europäischen Intellektuellen hier geworden ist. Hat es sie zerstört, hat es die Qualität ihrer Arbeit verbessert? Mann hat hier seine vielleicht wichtigsten Bücher geschrieben, z.B. den "Doktor Faustus", und Brecht den "Galileo". Für mich sind das klare Beweise, dass das südkalifornische Klima an sich der Kreativität nicht abträglich sein muss. Ich vergleiche mich in keiner Weise mit Leuten wie Thomas Mann, aber ihre Exilsituation interessiert mich.

Fühlen Sie sich in LA denn im Exil?
Salonen: Nein, ich bin ja freiwillig in LA und finde es ganz nett hier. Trotzdem werde ich beinahe täglich daran erinnert, wie weit ich von zu Hause weg bin. Es gibt Dinge im american way of life, die ich sehr genieße, und solche, mit denen ich gar nicht zurechtkomme. Das Schwierigste an meinem Leben hier ist, das es keine kulturelle Szene gibt, als deren Teil man sich fühlt, so wie man das aus Europa kennt. Ich leite die größte kulturelle Institution in LA, das bringt mich natürlich mit vielen Leuten zusammen, aber wenn ich nach Paris, London, Berlin oder Helsinki gehe, habe ich das Gefühl, Teil eines Netzwerkes zu sein. Das ist hier nicht so, und das macht mein Leben mitunter recht einsam.

War das der Grund für Sie, 2003 lieber ein Ostseeanrainer-Musikfest ins Leben zu rufen?
Salonen: Das ist eine Idee, die ich schon lange hatte. Als ich das erste Mal seit dem Ende der Sowjetunion nach St. Petersburg kam, habe ich verstanden, wie sehr wir Ostseeanrainer zusammengehören. Die Ostsee wird für unsere Staaten immer - egal was aus der NATO oder der EU wird - die wichtigste Verbindung bleiben, wie es das Mittelmeer für Südeuropa ist. Da ist so viel gemeinsame Geschichte, denken Sie nur an Schleswig-Holstein, das hat ebenso zu Dänemark wie zu Deutschland gehört. Oder die baltischen Länder, die waren während der Sowjetzeit fast von der Landkarte verschwunden - nun sind sie wieder da und ihr natürlicher geografisch-kultureller Rahmen ist die Ostsee.
Rock
Wird das ein Neue-Musik-Festival werden?
Salonen: Es wird alles mögliche zu hören sein, die Hauptsache ist, dass die Musiker aus dem Ostseeraum kommen. Ich habe auch Rock- und Folkgruppen eingeladen.

Rockgruppen?
Salonen: Ich glaube, es gibt eine ganze Menge Innovationen gerade in der Rockmusik. Die besten Bands heutzutage, "Radiohead" z.B., machen nach an allen Maßstäben gemessen eine sehr interessant und kraftvolle Musik. Außerdem haben Komponisten sich schon immer mit der populären Musik ihrer Zeit befasst, denken Sie an Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Chopin, Strawinsky. Es wäre verrückt, die Existenz dieses Teils der Welt zu ignorieren.

Ein orthodoxer Neutöner waren Sie nie, Sie haben sogar mal von einer "Boulez-Berio-Darmstadt-Mafia" gesprochen.
Salonen: Ich bewundere Boulez sehr, er hat mir viel geholfen, und ich habe nichts gegen seine Musik. Auch Berio schätze ich sehr. Aber die Neue Musik, die meinem Temperament entspricht, kommt eher von Lutoslawski und Ligeti. Also Komponisten, die nicht direkt der seriellen Schule angehörten. Mir ist die Vorstellung, Musik als Kombination von Parametern zu hören völlig fremd. Für mich war das, was Lutoslawski, Ligeti und einige andere gemacht haben, eine frische Sicht auf die Dinge, eine postromantische mitteleuropäische Musik. Viele Serialisten schienen mir dagegen noch der romantischen deutschen Tradition verhaftet - was natürlich daran liegt, dass sie Webern als Ausgangspunkt genommen haben, von dem wir heute klar sehen können, dass er eigentlich ein Spätromantiker war.

Lange hat man mit finnischer Musik allenfalls den Namen Sibelius verbunden, heute gibt es eine ganze Reihe renommierter finnischer KomponistInnen und Dirigenten, da scheint sich bei Ihnen zu Hause einiges getan zu haben?
Salonen: Das ist ganz einfach, Finnland hat in den 70er-Jahren sein System kommunaler Musikschulen stark ausgebaut, und nun trägt diese sehr gute Musikerziehung ihre Früchte. Das Niveau der jungen Musiker in Finnland ist sehr hoch. Soziologisch gesehen hat Musik in Finnland einen hohen Rang; Musiker zu werden, gilt durchaus als gute Idee. Sie können damit zwar immer noch nicht reich werden, aber sie erwerben sich Respekt, was genauso wichtig ist, vielleicht sogar wichtiger. Außerdem wirkt die Idee nach, in Johan Sibelius die wichtigste Persönlichkeit Finnlands zu sehen, weil er es geschafft hat, ein Land zu einen, in dem man zwei verschiedene Sprachen spricht und das eine ziemlich verwickelte Geschichte hat. Sibelius ist das Symbol der Einheit und - nicht im streng historischen Sinne, aber der Idee nach - auch die wichtigste politische Figur Finnlands.

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