Ilja Stephan Musikpublizist

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Evgeni Koroliov - Portrait
Klavierspiel von lichter Klarheit
in: "Hamburger Abendblatt", 13. Mai 2014.

Mit einem sanften Lächeln wird der Buddha zumeist dargestellt. So als könnten ihn weder Schmerz noch Freude dieser Welt aus seiner Ruhe bringen. Und wenn Buddha Klavier spielen würde, müsste es wohl so klingen wie beim Konzert von Evgeni Koroliov am Sonntag im großen Saal der Laeiszhalle. Denn Koroliovs Kunst ist geprägt von einer noblen Gelassenheit und freundlichen Unaufgeregtheit. Gesten und Mimik gestattet er sich kaum – außer eben einem Lächeln. Extreme in Lautstärke und Tempo meidet er, dafür setzt er auf ein Höchstmaß an Artikuliertheit und lichter Klarheit.

Bei Bachs Partita in e-Moll BWV 830 und dem Italienischen Konzert BWV 971 bewährten sich diese Tugenden erwartungsgemäß bestens. Und bei Beethovens Hammerklaviersonate op. 106 zeitigten sie eine überraschende Erkenntnis: Vielleicht ist dieses monumentale Werk gar nicht so pathetisch-heroisch, wie man es sonst zu hören gewohnt ist. Bei Koroliov jedenfalls klang das Kopfthema des ersten Satzes tatsächlich nach einer Fanfare, auf die man die Worte „Vivat, Vivat Rudolfus“ hätte skandieren können. Das zweite Thema des sonst so düster-depressiven Adagio Appassionato e con molto sentimento bekam in Koroliovs Lesart etwas beinahe Tänzerisches. Und selbst die stets ehrfürchtig bewunderte Fuge klang bei dem Erleuchteten der Tastenkunst weniger nach übermenschlicher Anstrengung, als nach barocker Festlichkeit. (ist)



Champions-League der Pianisten
Evgeni Koroliov und Ljupka Hadzi-Georgieva
in: "Welt am Sonntag", 20. November 2011, Hamburg-Teil.

Mehr Bach geht nicht. Für ihr neuestes Konzertprojekt haben sich der Bach-Experte Evgeni Koroliov, der Bach-Papst Helmuth Rilling und dessen Stuttgarter Bach-Collegium zusammengetan. Gemeinsam mit Koroliovs Ehefrau Ljupka Hadzi-Georgieva und den aus Koroliovs Hamburger Pianistenschmiede hervorgegangen Kollegen Anna Vinnitskaya und Stepan Simonian spielen sie am Donnerstag in der Laeiszhalle Konzerte für 1 bis 4 Klaviere von Johann Sebastian Bach.

Treffsicher hat die Koroliov-Mannschaft sich dabei ausschließlich Werke in Moll-Tonarten herausgesucht. Doch den Einwand, ob so viel düsterer Bach-Purismus nicht selbst den größten Fan etwas überfordere, widerlegt Ljupka Hadzi-Georgieva mit reinem Überschwang. Nein, „unterhaltsam“, gar „amüsant“ werde der Abend. „Wir sind verliebt in diese Musik. Und wenn man sie mit Menschen spielt, mit denen man sich gut versteht, die man lieb hat, dann ist das die pure Freude.“

Im Ehegespann der beiden Pianisten-Kollegen Koroliov und Hadzi-Georgieva sind die Rollen klar verteilt. „Das ist Musik, die wirklich jedem das Herz öffnet ...“, schwärmt sie über Bachs Konzerte. „… und den Geist aufhellt“, fügt er in seiner bedächtig-abwägenden Art hinzu. Man muss das Ehepaar mit seinen Musikerfreuden beim Proben erlebt haben, um zu verstehen, wie aus charakterlichen Kontrapunkten musikalische Harmonie werden kann.

In einem Raum der Hochschule für Musik und Theater trafen sich die vier Pianisten Ende Oktober, um zusammenzuführen, was jeder einzeln erarbeitet hatte: Der Raum ist für die vier schwarzen Ungetüme viel zu beengt; das Instrumentarium ist mit Flügeln verschiedener Hersteller und Klangcharakteristik seltsam gemischt. Und die Vinnitskaya muss gar mit einem schlecht gestimmten Standklavier vorlieb nehmen. So finden die vier zwar immer auf einem misstönend-schwebenden Schlussakkord zusammen, doch die Stimmung könnte nicht besser sein.

Simonian lässt eine Bonbon-Tüte rumgehen, Hadzi-Georgieva sorgt sich, dass Musiker, Fotograf und Journalist es alle warm und bequem haben, und Koroliov macht sich Gedanken über die Lautstärke. Doch zu den Wundern dieses Quartetts gehört, dass der enge Raum von der geballten Klangmacht der 4 mal 88 Tasten nicht gesprengt wird. Selbst unter so misslichen Umständen hört man jede Note. Es wird viel gelacht und unglaublich konzentriert gearbeitet. Mit der Partitur auf dem Pult koordiniert Koroliov seine Truppe, singt einzelne Phrasen vor, spendet ab und an ein lobendes „haroscho“ (russ.: „sehr gut“) oder mahnt: „ne theatralno“ („nicht theatralisch“).

Nur einmal mag sein Ehegespons der Meinung des Meisters nicht folgen. Es entspinnt sich zwischen Koroliov und seiner Frau eine Wechselrede, deren Inhalt man als Russisch-Unkundiger nur erahnen kann, bis Ljupka Hadzi-Georgieva aus einer Tasche ein Metronom zutage fördert und mit energischer Geste auf einen Flügel stellt. Ja, zum Trost aller Hobby-Klavierspieler kann berichtet werden, dass dieses Folterinstrument selbst in der absoluten Pianisten-Champions-League noch Verwendung findet. Doch mit welchem Ergebnis: Im Finale des Konzertes BWV 1065, dessen Musik Bach ehrerbietig bei Vivaldi geklaut hat, scheint der gesamte Raum vom gemeinsamen Groove der vier Klavier förmlich zu tanzen.

Die Probenpause nutzt der Fotograf für ein Einzelportrait von Evgeni Koroliov – was der nur schweren Herzens über sich ergehen lässt. Sich in Pose zu setzen, ist ihm ersichtlich ein Gräuel. Dafür plaudert seine Frau derweil ein wenig aus der Schule und verrät einiges über die menschliche Ebene, die Koroliov wohl lieber ganz hinter der Kunst zurücktreten lassen würde. Über die schwere Zeit ihrer Trennung redet sie, als ihr Mann aus der UdSSR nicht herauskam, während sie mit dem Sohn Andrej schon in Jugoslawien lebte. Und Hadzi-Georgieva berichtet über Koroliovs erste Lehrerin, Anna Artobolewskaja, die auf der Suche nach ihrem verschollenen Mann eine leidvolle Odyssee durch die Sowjetbürokratie unternahm.

Es ist gerade die menschliche Dimension, das Ethos des Musikmachens, das Koroliovs Schüler an dem Verhältnis zu ihrem Lehrer herausstreichen. „Er zeigt uns, was es heißt, ein Musiker zu sein“, sagt Stepan Simonian, der eigens vom Moskauer Konservatorium zu Koroliov nach Hamburg gewechselt war. Anna Vinnitskaja dagegen hatte hier erst bei einem anderen Professor studiert und war dann in Koroliovs Klasse gewechselt, weil „bei ihm jeder Schüler anders klang“. Von klaviertechnischen Dingen ist bei beiden Koroliov-„Schülern“, die längst erfolgreiche Konzertpianisten sind, nie die Rede. Dafür berichtet Vinnitskaja vom Bildungsanspruch ihres Mentors: „Häufig fragt er mich, hast du dieses oder jenes Buch schon gelesen?“

Leider ist das Gespräch mit seinen Meisterschülern viel zu schnell vorbei, weil der „Patriarch“ mit gequälter Miene und einem tiefen Seufzer in der Tür des Probenraums erscheint. Der Fotograf ist endlich fertig, es kann weitergehen. „Dawei.“

Tatsächlich klingt das, was Vinnitskaja und Simonian zu sagen haben, wie ein Echo dessen, was Koroliov über seine Lehrer zu berichten weiß. Evgeni Koroliv hat bei dem Neuhaus-Schüler Lew Naumow studiert sowie bei Heinrich Neuhaus selbst und Maria Judina, zwei großen russischen Bach-Interpreten. Doch eine gerade Linie ziehen von Neuhaus zu sich selber will er nicht. Viel zu unterschiedlich seien die Musikerpersönlichkeiten, die aus dessen Klavierklasse hervorgingen: Svjatoslav Richter, Emil Gilels oder Alexej Lubimov. „Schöpferische Freiheit“ habe Neuhaus gelehrt, und wenn überhaupt von einer Neuhaus-Schule die Rede sein könne, dann nur „in dem Sinne, dass es keine Schule gibt“.

Dass aus dem Konzertpianisten Evgeni Koroliov überhaupt eine Lehrer wurde, hatte ursprünglich einen ganz pragmatischen Grund: Er hatte eine Familie zu ernähren. Doch als Brotberuf will Koroliov sein Professorendasein nicht verstanden wissen: „In Russland ist es Tradition, dass jeder, der spielt auch lehrt. Bei uns ist Lehren nichts Untergeordnetes.“ Der alte Bach, bei dem Meisterwerke unter dem Titel „Clavierübung“ firmieren, und dessen Spektrum vom didaktischen Notenbüchlein der Anna Magdalena bis zur esoterischen Kunst der Fuge reichte, hätte das sicher ebenso gesehen.

Für Johann Sebastian Bach war Musikmachen eine ebenso familiäre wie gesellige Angelegenheit. Seine Konzerte für Melodieinstrumente zog er in späteren, Leipziger Jahren wieder aus der Schublade, um sie für ein oder mehrere Klavier zu bearbeiten. Im Zimmermanschen Caféhaus wird er diese Musik dann zusammen mit seinen Söhnen, Schülern und dem eigenen Collegium musicum gespielt haben. Für die Neuauflage gut 280 Jahre später sind Rillings Bach-Collegium sowie Koroliovs Freunde und Familie also sicher eine Idealbesetzung.