Karlheinz Stockhausens Zyklus „Klang – Die 24 Stunden des Tages“
in: Programmheft Schleswig-Holstein Musik Festival, August 2009.
„wir machen elektronische MUSIK, wunderschöne elektronische musik!!!“ Das schrieb Karlheinz Stockhausen 1954 anlässlich eines Konzertes „Wege zur elektronischen Musik“ ins Gästebuch der NDR-Reihe „das neue werk“. Und man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über die unorthodoxe Groß- und Kleinschreibung oder darüber, dass ausgerechnet die für viele Hörer so befremdliche elektronische Musik „wunderschön“ genannt wird. Doch irritierende Orthografie und ungewohnte Wortwahl sollten vor allem eines untersteichen: Hier beginnt etwas grundstürzend Neues. Hier will einer, dass wir völlig neu denken und hören lernen. Schon im Jahr zuvor hatte Stockhausen sein künstlerisches Programm der Zeitung „Welt am Sonntag“ diktiert. Unter dem Titel „Treffpunkt Hamburg“ zitierte das Blatt im Januar 1953 den jungen Elektrorevolutionär mit den Worten: „Wir wollen eine Musik, die losgelöst ist vom momentanen individuellen Ausdrucksbedürfnis des Komponisten. Die Erforschung der elektronischen Klangmittel wird uns dabei in Zukunft helfen können. Diese Musik ist unmenschlich, wenn Sie wollen: ein Sternensystem.“ Wenn heute, über 56 Jahre nach dieser visionären Ankündigung Stockhausens letzte, im Auftrag des NDR geschriebene Komposition „Paradies“ in der Hamburger Laeiszhalle uraufgeführt wird, schließt sich somit ein riesiger Bogen.
Die Elektronik, der Stockhausen Anfang der 1950er-Jahre begegnete, war für ihn mehr als ein Mittel unter vielen, sie war eine Schule des Denkens. Ihre Möglichkeiten und Kategorien prägten seine gesamte musikalische Grammatik – auch dort, wo er weiter für akustische Instrumente schrieb. Es war nicht weniger als die Neuerfindung der Musik aus dem Geist einer mathematisch-wissenschaftlichen Rationalität. Dank der elektronischen Klangsynthese wurde es erstmals denkbar, die Gesamtheit aller möglichen Klänge, vom reinen Sinuston bis zum sämtliche Frequenzen umfassenden weißen Rauschen, technisch herzustellen und in allen Eigenschaften total zu kontrollieren. Die Wissenschaft drang bis in die kleinsten Einheiten der Materie und zugleich in kosmischen Dimensionen vor. Und analog dazu sah Stockhausen eine Musik kommen, in der von den feinsten Differenzen zwischen zwei Frequenzen und den winzigsten Abständen im Millisekunden-Bereich bis zu 600-kanaligen Klängen und 32-stündigen Opern-Zyklen alles denk- und beherrschbar wird. Eine Beethoven-Symphonie auf eine Sekunde zusammengestaucht oder ein unendlich gespreizter Paukenton als formaler Bauplan eines großdimensionierten Werkes? Dank neuster Technik (im Prinzip) alles kein Problem! Denn aller Klang ist Schwingung. Und jede Schwingung lässt sich durch Zahlen ausdrücken und zu anderen Schwingungen in Beziehung setzen. Proportionen regieren die klingende Welt, in Reihen kann man sie ordnen und mit Reglern kann man sie (am besten) manipulieren. Nachdem er zuerst eine „spezielle serielle Form“ für einzelne Parameter wie die Tonhöhe oder den Rhythmus eines Stückes entworfen hatte, arbeitete Stockhausen eine „allgemeine serielle Form“ aus, in der schließlich Form, Tonhöhen, Dauern, Klangfarben u.a. aus nur einem einheitlichen Proportionsgefüge abgeleitet wurden. Mit solchen Theorien im Kopf und Tonbandgeräten und Sinusgeneratoren in der Hand drang der Einstein der Musik in Galaxien vor, von denen noch nie zuvor ein Mensch gehört hatte.
Die klanglichen Ergebnisse solchen Forschens lösten allerdings auch heftiges Befremden aus: Das klinge wie „Webern auf einer Wurlitzer-Orgel“ befand etwa Theodor W. Adorno. Und der Dirigent Sir Thomas Beecham wurde noch drastischer: Nein, aufführen würde er solchen Kram nicht, aber er sei schon mal in so etwas reingetreten. Die Heftigkeit des Spottes und der Ablehnung lag in der Natur der Sache. Weniger wäre vermutlich auch Stockhausen zuwenig gewesen. Er hatte ja schon 1953 klar angekündigt: „Diese Musik ist unmenschlich.“ Hinter seiner Obsession für die Elektronik stand eine ethische, besser noch, eine religiöse Vision: Eine Musik, die nicht mit menschlichem Maß misst, sondern, die den Menschen, seine Wahrnehmungs- und Vorstellungsfähigkeit, konsequent übersteigt. Ja, mehr noch, die ihre Hörer zu anderen, höher entwickelten Wesen transformiert. Stockhausen war davon überzeugt, dass die Töne, die wir hören, uns verwandeln, dass sie uns physisch messbar verändern. Mit uneingeschränkter Begeisterung berichtete er in einem Grundlagentext über elektronische Musik von einem klangforschenden Kollegen, der seine Goldfische ins Jenseits beförderte, indem er eine extra-tiefe Bassfrequenz an ihr Aquarium anlegte. Später träumte er von einer „Massagemusik“ mit Tönen, „die auf den Hörer zukommen und zurück pulsieren, mit einem riesigen Motor dahinter“. Und seine Begeisterung für ein perfekt koordiniertes Terror-Happening, das auf einen Schlag mehrere Tausend Menschen ins Nirwana riss, hat Peter Sloterdijk treffend als „Eifersuchtsausbruch“ diagnostiziert. Für Stockhausen war das, was in seiner Vorstellungswelt von Luzifer, dem Virtuosen der Zerstörung, am 11. September 2001 angerichtet worden war, wohl eine Art destruktives Gegenstück zu seinem eigenen Lebensprojekt. In seiner 32-stündigen Opern-Hepatlogie LICHT, an der er von 1977 bis 2003 komponierte, gab der Komponist selbst eine umfassende Darstellung seiner Weltsicht.
Kosmische Evolution ist das Thema dieses Riesenwerkes, in der jede Oper den Namen eines Wochentages trägt: In FREITAG aus LICHT etwa kopulieren Menschen und Maschinen und zeugen neue, hybride Rassen, die sich in einem KINDERKRIEG gegenseitig bekämpfen bis alles in aufsteigenden Feuerspirale in höhere Regionen entrückt wird. Die gesamte Musik der sieben LICHT-Opern wird aus einer einzigen Superformel abgeleitet, deren Verwandlungen und Projektionen vom Größten bis ins Kleinste alles durchdringen. Befremdlicher, anstößiger und technisch komplizierter als in LICHT geht es nicht. – Und doch war Stockhausen von dem Bewusstsein durchdrungen, dass die Erfahrung universeller Sinnhaftigkeit sich später einmal umso fulminanter einstellen werde, je weiter er die Grenzen seines Projekts hinausschieben und je weiter er sich ins Unerschlossene vorwagen würde: „Wie brauchen einen Abstand von Jahrzehnten, bevor wir überhaupt wahrnehmen können, dass in LICHT eine Superformel über sieben mal drei Stunden gespreizt ist. Wenn einem wie in einem luziden Traum auf einmal aufgeht, das jeder Abend ein Glied der Superformel ist, das muss ja bis zum Explodieren Glück erzeugen!“
Nachdem er 26 Jahr lang an dem Zyklus der Woche komponiert hatte, machte sich Stockhausen nach dem Abschluss von LICHT an die nächst kleinere Zeiteinheit. Von 2004 an bis zu seinem Tod im Dezember 2007 komponierte er an dem Zyklus KLANG – Die 24 Stunden des Tages. Jeder Stunden des Tageszyklus wollte er eine Komposition widmen, wobei die alte Klostertradition der Stundengebete sein erklärtes Vorbild war. 21 der geplanten 24 Stücke konnte Stockhausen vollenden. Und so wie die 24 Stunden des Kalendertages in Tag und Nacht geteilt sind, ist auch KLANG erkennbar in zwei kontrastierende und doch innerlich zusammenhängende Teile gegliedert. Die ersten zwölf Stunden sind (bis auf die wahlweise Verwendung eines Synthesizers in der ersten Stunde) rein akustisch. Kammermusikalische Besetzungen vom Solo-Stück für Klavier bis zum Septett bestimmen diesen Teil des Zyklus, wobei nach der fünften Stunde wechselnde Trio-Besetzungen dominieren. Die Titel der ersten fünf Nummern sprechen klar eine humane oder religiöse Sprache: Himmelfahrt, Freude, Natürliche Dauern, Himmels-Tür und Harmonien. Als Titel der Stücke sechs bis elf hat Stockhausen dann so genannte „edle Worte“ gewählt: Schönheit, Balance, Glück, Hoffnung, Glanz und Treue. Dazu kommt – im Übergang zu zweiten Teil – Erwachen. Die Musik dieser ersten zwölf Stunden ist geprägt von dem, was ein Rezensent „hemmungslosen Wohlklang“ genannt hat. Es ist eine melodisch und harmonisch beinahe eingängige, im Umgang z.B. mit den Harfen auch Konventionen nicht scheuende Sprache, die Stockhausen hier spricht. Dies gilt auch für BALANCE (7. Stunde aus KLANG), die am 22.08.2008 im Funkhaus des WDR am Kölner Wallrafplatz uraufgeführt wurde. Ein „gelassenes, heiteres Alterswerk, das im Gotteslob endet“ sowie eine klare Ausrichtung auf die Melodie, auf deren „arabeskenhaftes Wuchern“, auf „französische Klangsinnlichkeit“ und „ausufernde Vitalität“ konstatierte damals ein Kritiker.
Dieses Bild ändert sich mit COSMIC PULSES (13. Stunde aus KLANG) schlagartig. Dieses Stück rein elektronischer Musik ist die purste Manifestation einer „unmenschlichen“ wie „ein Sternensystem“ gedachten Musik, die Stockhausen je gewagt hat. Nacheinander setzen 24 sich überlagernde Klangschichten ein. Jede dieser Schichten hat ihre eigene Tonhöhen-Charakteristik, ihr eigenes Tempo und rotiert auf ihrer eigenen Bahn in dem Klangraum, den acht Lautsprecher um den Hörer herum aufspannen. Stockhausen selbst hat die Komposition mit der Aufgabe verglichen, „24 Planeten um eine Sonne mit individuellen Rotationen, Tempi und Flugbahnen zu synchronisieren“. Es ist der reine akustische overkill, weit über jedes menschliche Maß hinaus. So muss sich eine Amöbe fühlen, die unversehens ins klickende, tickende Räderwerk einer Weltzeituhr geraten ist. Im zweiten Teil von KLANG wird COSMIC PULSES dann zum Mutterschiff einer Sternenflotte. Für jede der folgenden acht Stunden wählte Stockhausen drei der 24 elektronischen Schichten aus und komponierte eine akustische Solo-Stimme hinzu. EDENTIA (20. Stunde aus KLANG), das vom NDR in Auftrag gegeben und am 06.08.2008 im Rahmen des SHMF uraufgeführt wurde, beruht auf den Schichten 6, 5 und 4 aus COSMIC PULSES. – Das sind nur drei der 24 Schichten und doch reichten schon die, um nicht nur beim Rezensenten der „Welt“ seinerzeit den Eindruck eines „kosmischen“, „sprudelnden Klangmeers“ zu hinterlassen. In PARADIES (21. Stunde aus KLANG), das ebenfalls im Auftrag des NDR entstand und heute uraufgeführt wird, verwendet Stockhausen schließlich die drei verbleibenden Schichten von COSMIC PULSES. Auch die Titel der Stunden 14 bis 21 von KLANG unterstreichen den Eindruck einer elektronischen Weltraumreise. Sie entstammen dem futuristisch-esoterischen Buch Urantia, das seit den 1970er-Jahren Stockhausens Weltsicht prägte. Im kosmologischen Entwurf des Urantia-Buches ist „Edentia“ der Hauptplanet in der Konstellation „Norlatiadek“, die als Subsystem des Systems „Satania“ im Universum „Nebadon“ liegt. „Paradies“ schließlich ist das Zentralgestirn, der Sitz der höchsten Trinität und Ausgangs- und Zielpunkt aller geistigen Entwicklung. Hier schließen sich alle Kreise. Und es bedürfte der visionären Kraft eines Karlheinz Stockhausen, um sich vorzustellen, wohin jenseits des Paradieses die Reise noch hätte gehen sollen ...