Ilja Stephan Musikpublizist

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Enzyklopädie der Sinnlichkeit
Klang, Farbe und Textur in der Musik von Kaija Saariaho
in: Programmhefte Rheingau Musik Festival, Juli 2010.

Kann man Töne auch sehen oder ertasten? Den meisten von uns erschiene eine solche Vorstellung übertrieben. Und doch, überall dort, wo wir über unser Erleben von Klängen reden, nehmen wir fast unweigerlich zu Metaphern aus dem Bereich des Sicht- und Tastbaren Zuflucht. „Die Eigenschaften, welche man unter dem Begriff Klangfarbe zusammenfasst, bilden eine so bunte Menge, dass man beim Überblick schier verzweifeln muss. Wir finden als solche erwähnt: mild, weich, schmelzend gegenüber scharf, hart, rau; dann voll, breit, pastos gegenüber leer, spitz, dünn, näselnd; dann hell, glänzend, metallisch, silbern gegenüber dunkel, dumpf, trüb, verschleiert, hölzern (...).“ Dieser Katalog der Klang-Qualitäten, den der Pionier der Tonpsychologie Carl Stumpf bereits vor über 100 Jahren zusammengestellt hat, ist noch erheblich länger. Doch am Ende gesteht Stumpf ein, dass selbst ein so differenziertes Vokabular wie es Weinhändler für die zahllosen Nuancen des Geschmacks hätten, nicht hinlangen würde, um die unendlichen Schattierungen von Klängen zu beschreiben. Einen intensiven Eindruck jenes sinnlich-emotionalen Reichtums, den Stumpf nur unzulänglich in Worte zu fassen vermochte, gibt uns die Musik von Kaija Saariaho.

Ursprünglich hatte die finnische Komponisten Malerin werden wollen. Es überrascht also nicht, wenn Saariaho heute sagt, dass sie klangliche Zustände in ihren Partituren organisiert wie ein Künstler die Farben und Texturen auf seiner Leinwand. Wo Saariaho versucht, ihr Vorgehen beim Komponieren in Worte zu fassen, klingt dies wie ein Echo von Stumpfs Tonpsychologie: „Ich teile die Musik in verschiedene Kategorien, nach der Natur der Klänge, nach ihrer Oberfläche, ist sie körnig oder weich, oder nach der Helligkeit des Spektrums, danach, ob das Spektrum sehr klar und rein ist oder ob es komplex ist, je komplexer, um so mehr Anteile von Geräusch hat der Klang in sich.“ Nur ist Saariaho eben nicht mehr auf das Vokabular eines Weinhändlers angewiesen. Die moderne Elektroakustik hat das Spektrum des Klingenden in seine Bestandteile zerlegt, es in Frequenz, Amplitude, Hüllkurve, Ein- und Ausschwingvorgänge etc. aufgefächert und manipulierbar gemacht. Jene „bunte Menge“, die Stumpf noch „schier verzweifeln“ ließ, ist heute technisch beherrschbar – im Prinzip mit handelüblicher Audiosoftware auf jedem PC. Sie auch künstlerisch fruchtbar zu machen, Sinn und Sinnlichkeit zusammenzubringen, ist der Kern von Saariahos Arbeit. „Ich suche nach einer Balance von Intellekt und Gefühl“, so ihr Credo.

Kaija Saariahos 2008 für die Berliner Philharmoniker geschriebenes Orchesterstück „Laterna Magica“ ist ein Musterbeispiel für ihre Kunst, eine kompositorische Formel zu finden für die unendlichen Nuancen eines Phänomens. Ausgangspunkt des Stückes ist ein Katalog von Lichtqualitäten, den Saariaho in der Autobiografie „Laterna Magica“ des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergmann gefunden hat: „Das milde, gefährliche, traumhafte, lebendige, tote, klare, diesige, heiße, heftige, kahle, plötzliche, dunkle, frühlingshafte, einfallende, nach außen dringende, gerade, schräge, sinnliche, bezwingende, giftige, beruhigende, helle Licht.“ Wie magische Beschwörungsformeln lässt die Komponistin die Holzbläser diese Worte in ihre Instrumente wispern. Gar nicht magisch, sondern sehr sachlich und rational ist allerdings Saariahos Grundidee für die Form ihres Stückes, die die Funktionsweise des altertümlichen Projektionsapparates zum Vorbild nimmt: „Bei einer Laterna Magica folgen die Bilder aufeinander, je schneller, umso konstanter ist das Bild. Diese Idee war der Ausgangspunkt, für meine Gedanken über das Tempo in der Musik und seine Wahrnehmung. Es ging um die Frage wie musikalisches Material sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten verhält.“ Dieser Grundidee entsprechend wechseln Vortragsbezeichnungen, Tempi und Taktarten in schneller Folge; mitunter lösen die gegensätzlichen Stimmungen „agitato“ und „calmo“ einander sogar taktweise ab. Wie die Lichtwechsel in einem Film so folgen die klanglichen Zustände in dieser musikalischen Laterna Magica aufeinander.

Schaut man sich Carl Stumpfs eingangs zitierten Klangfarben-Katalog und Saariahos Analyse musikalischer Oberflächen näher an, so fällt auf, dass beide aus Gegensatzpaaren aufgebaut sind: hell und dunkel, körnig und weich, mild und scharf, glänzend und trüb, metallisch und hölzern etc. Alle sinnlichen Qualitäten sind hier in einem Spektrum zwischen zwei extremen Polen angeordnet. Die ganze Welt des Lichts liegt zwischen gleißender Helligkeit und tiefer Finsternis, alles Klingende spielt sich zwischen den Extremen komplexes Geräusch und reiner Sinuston ab. Die elektronische Musik, mit der Saariaho sich seit 1982 am Pariser IRCAM-Institut intensiv beschäftigt hat, arbeitet vor allem damit, fein abgestufte Übergänge zwischen den Extremen zu schaffen. Indem man einzelne seiner Eigenschaften – „Parameter“ wie es im Technik-Jargon heißt –, etwa Tonhöhe oder innere Zusammensetzung, transformiert, kann man ein diffuses Geräusch in einen harmonischen Akkord überführen oder vice versa. In Saariahos „Verblendungen“ für Tonband und Orchester von 1984 hat sie ein solches Ton-Geräusch Kontinuum in Reinkultur vorgeführt. Ihr musikalisches Vokabular ist seither unendlich vielfältiger geworden, doch die zugrundeliegende Logik ist geblieben – auch in Werken, in denen die Komponistin mit rein instrumentalen Mittel arbeitet.

Einen guten Eindruck von der Arbeit mit den Metamorphosen eines Klanges bietet „Solar“. Seinen Namen hat „Solar“ von einem „Sonnenakkord“, der wie ein Zentralgestirn und Gravitationszentrum den ersten Teil des Stückes beherrscht. Dieser Akkord kann z.B. durch die Instrumentration verändert werden, er kann sich bis zu einem einzelnen Ton ausdünnen oder mit anderen Tönen anreichern. Doch immer wieder im Verlaufe des ersten Teils kehrt der Musik – wie unter dem Gesetz der Schwerkraft – zu der Ausgangsgestalt des Akkordes zurück. Erst gegen Ende lässt dann dessen Anziehung nach und die Musik löst sich in schnell wechselnde Gegensätze auf; die einzelnen Parameter, Tonhöhe, Harmonik, Tempo, Rhythmus und Instrumentration, springen nun zwischen den Extremenwerten.

Zwei Pole, zwischen denen sich Saariahos Stücke sehr häufig entfalten, sind das gesprochene, sinntragende Wort und der reine, musikalische Ton. Gerade in der Musik, die sie für eines ihrer Lieblingsinstrumente, die Flöte, schreibt, spielt dies immer wieder eine große Rolle. Vom tonlosen Atemgeräusch bis zum edlen, mattgoldenen Flötenton bietet das Instrument ohnehin eine reiche Palette an Klängen. Doch Saariaho erweitert dieses Spektrum immer wieder, indem sie die Flötisten auch Silben oder ganze Worte sprechen oder in ihr Instrument flüstern lässt, bis das Gewisper in geblasene Töne übergeht. Die Musik erscheint so als direkte Fortsetzung und Erweiterung des Wortes. Ihr für Camilla Hoitenga geschriebenes Flötenkonzert „Aile du songe“ (Traumflügel) etwa ist von Gedichten des französischen Nobelpreisträgers Saint-John Perse inspiriert. Die Satztitel und die Titel der Unterabschnitte sind dessen Gedichtzyklus „Oiseaux“ (Vögel) entnommen, in dem der Dichter den Vogelflug als „reiche Metapher für die Mysterien des Lebens“ (Saariaho) nutzt.

Dafür, dass man eine rhythmische Idee auch sehen kann, ist die Vorgeschichte von „Orion“ ein gutes Beispiel. Diese Orchesterwerk hat Saariaho 2002 für das Cleveland Orchestra geschrieben. „Während ich das Material entwickelte, habe ich das Wintersternbild Orion häufig beobachtet. Ich mochte die Art, wie die Sterne zueinander in Beziehung stehen. Es gibt da eine Gruppe von vier Sternen (Beine und Arme; IS) gegen drei Sternen (der Gürtel; IS). Das sind die Hauptsterne, davon habe ich die rhythmische Idee. Sie brauchen immer einen Anfangspunkt, und dies wurde meiner.“ Der Viererrhythmus zumindest ist im ersten Teil, „Momento mori“, in der beharrlichen Pulsation der Bässe sehr deutlich zu hören. Was man aber vor allem hört, ist die Lust der Komponistin am Umgang mit einem großen, kraftvollen Klangkörper, nachdem sie in den vorangehenden Werken „Eine Liebe aus der Ferne“ und „Aile du songe“ sehr zurückhaltend hatte orchestrieren müssen: „Ich habe die Arbeit mit einem, großen, großen Orchester wirklich genossen, das ist was ganz anderes. Ich habe die physische Präsenz eines maximal besetzten Orchesters zusammen mit der Orgel förmlich gespürt.“ Glaubt man einer Variante des Mythos, so hat Apollon, der strenge und grausame Gott der Künste, Orion ins Verderben gestürzt, weil der schöne junge Jäger die Göttin Artemis ernsthaft in Gefahr gebracht hatte, ihr Keuschheitsgelübde zu vergessen. Der mythologische Aspekt des Orion, so berichtet Saariaho, habe für sie im dritten Teil „Hunter“ eine gewisse Rolle gespielt. „Jugendliche, physische Energie“, habe sie darstellen wollen, so die Komponistin, und ein „beschwingtes Bild schneller Musik. Nicht nervös, nicht gewaltsam, sondern die Lust des Spielens.“