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Toru Takemitsu - Die Leere beleben

Am Ursprung von Tôru Takemitsus Denken stand der Tod; wer seine Kunst verstehen will, muss daher wissen, was ihm „Leben“ bedeutet hat. Seine größte Passion etwa war das Kino mehr...

Traumtheater
Zur UA von „Madrugada“ von Ichiro Nodaira und Barry Gifford nach einer Idee von Tôru Takemitsu
in: Programmheft Schleswig-Holstein Musik Festival, August 2005.

Als Tôru Takemitsu Anfang der 1990er-Jahre daran ging, sich intensiv mit der Idee an die Oper „Madrugada“ auseinander zu setzen, blickte er auf eine 40-jährige Laufbahn als Komponist zurück. Doch trotz der überreichen Fülle an Formen und Genres, die für sein Œuvre typisch ist, hatte er um musikdramatische Gattungen bis dahin einen großen Bogen gemacht. Dabei war Takemitsu gewiss kein Vertreter einer „absoluten Musik“, in der es die Tonkunst frei von allen außermusikalischen Assoziationen nur mit sich selbst zu tun hat. Es ging ihm ganz im Gegenteil stets um eine Musik, die konkrete Situationen und Gefühle spiegelt und deshalb am Leben seiner Mitmenschen teilhat. Das Genre, in dem Takemitsu dies am besten realisieren konnte – und mit dem er außerdem seinen Lebensunterhalt bestritt –, war die Filmmusik. Über hundert Filmmusiken hat er im Laufe der Zeit geschrieben und dabei von elektronischer Musik über Blues und traditionelle japanische Musik bis zu Free Jazz und Mahlerscher Spätromantik eine Vielfalt musikalischer Stile verwendet, die ebenso reich ist wie das Leben, das in diesen Filmen geschildert wird.

Dass ihn die Oper grundsätzlich nicht interessiert hätte, bedeutete dies jedoch nicht; so schrieb er 1990 zusammen mit seinem Freund, dem Literatur-Nobelpreisträger Kenzaburo Oe, einen Essay „Opera wo tsukuru“ („Eine Oper machen“). Man wird hierin einen Gegenentwurf vermuten können zu den herrschenden Strömungen im japanischen Musikbetrieb. Lange Zeit hatte das Musiktheater nach europäischem Vorbild in Japan einen schweren Stand; ein staatliches Opernhaus gab es nicht und bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war am einzigen Konservatorium des Landes das Opernfach nicht vertreten. Kommerziell erfolgreich war nur die so genannte „Mädchenoper“ (Shôjokageki) – eine Revue, in der sämtliche Rollen von unverheirateten Frauen gespielt wurden. Wer sich ernsthafter um die Oper bemühte, strebte zumeist in eine nationale Richtung. Der Komponist Kôsaku Yamada etwa gründete nach seinem Studienaufenthalt in Europa in den 1920ern eine „Musikdrama Gesellschaft“, deren Leitbild die Schaffung einer Nationaloper nach Wagnerschem Vorbild war. Diese Idee beherrschte lange die Opernproduktion in Japan. Als 1997 das erste staatliche Opernhaus in Tokio seinen Spielbetrieb aufnahm, schrieb der Grandseigneur der japanischen Oper, Ikuma Dan, zur Eröffnung mit „Takeru“ ein kaisertreues, mythisch verbrämtes Gesinnungswerk im Stile der Grand Opéra – das Publikum und Kritik allerdings gleichermaßen missfiel.

In einem solchen Umfeld hätten aufwändige musikdramatische Projekt aus Takemitsus Feder vermutlich wenig Chancen gehabt. Doch neben diesen äußeren Hindernisse, die durch das Ausweichen auf nichtjapanische Bühnen noch zu lösen gewesen wären, hat Takemitsu selbst die Hürden für eine Oper so hoch gelegt, dass sie kaum zu überwinden sind. Grundlage seiner Poetik war stets der Traum mit seinen surrealen Bildern und alogischen Verknüpfungen. Im Medium Film mit seinen heute nahezu unbegrenzten tricktechnischen Möglichkeiten ist die allzu enge Bindungen an die Realität viel leichter zu lösen, als in der mit Seilzügen und Hebebühnen arbeitenden barocken Illusionsmaschine Theater – nicht zuletzt deshalb wird Takemistu sein Leben lang von Filmen so fasziniert gewesen sein. Bei seiner Konzeption von Musiktheater, so wie sie sich an „Madrugada“ ablesen lässt, hat der Cineast und Träumer Takemitsu aber kaum Rücksicht auf deren Realisierbarkeit genommen – und seine Oper damit von vorneherein mit einer schwere Hypothek belastet.

Die buddhistische Vorstellung von „Schleier der Illusion“ etwa, der den in Leidenschaften verstrickten Menschen den Blick auf die Wirklichkeit verstellt, wird in „Madrugada“ mit dem Theatervorhang identifiziert. Der soll, so lautet die Regieanweisung auf dem bekanntermaßen geduldigen Papier, am Anfang der Vorstellung „beginnend vom unteren Ende“, in Flammen aufgehen und den Blick auf „Hieronymus-Bosch-ähnliche“ Albtraumlandschaften freigeben. Die Handlung von „Madrugada“ wird dann fast ebenso stark von projizierten Bildern und Videoeinspielungen bestimmt, die uns in die Träume der Protagonisten blicken lassen, wie von den Handlungen der Akteure auf der Bühne. Am eklatantesten setzt Takemitsu sich schließlich mit seiner finalen Erlösungsidee über alles theatertechnisch Mögliche hinweg: Die auf einem Floß ausgesetzte, zum Tode verurteilte Protagonisten Yumi wird aus ihrer Malaise von einer Schule gewaltiger Wale befreit, die aus dem Meer auftauchen und sie über die Köpfe des Publikums hinweg durch den Zuschauerraum tragen sollen.

Die Ideen, die Takemitsu in „Madrugada“ eingebracht hat, zählen zum Persönlichsten, was er zu geben hatte: Die Titelheldin Yumi ist ein Portrait seiner Tochter Maki – die Figur sollte ursprünglich sogar so heißen –, sein tiefes Erschrecken über unsere Gegenwart prägt dieses Werk ebenso wie seine Liebe zur See und zu Walen. Der Greenpeacekampagne „Rettet die Wale“ hatte er 1981 eine Komposition gewidmet, und auf seiner letzten Postkarte schreibt der vom Krebs Gezeichnete: „Ich werde wieder stark sein wie ein Wal und in einem Ozean ohne Ost und West schwimmen.“ Das Libretto zu einem solchen Sujet zu schreiben, erforderte eine in vielfacher Hinsicht wahlverwandte Persönlichkeit, die Takemitsu und Nagano in Barry Gifford fanden.

International bekannt wurde Gifford vor allem durch seine Kooperationen mit dem Regisseur David Lynch, der Giffords Roman „Wild at heart“ verfilmte und mit dem zusammen er anschließend das Drehbuch zu dem surrealen Klassiker „Lost Highway“ geschrieben hat. Die „New York Times“ nannte Gifford den Chronisten von Amerikas Verfall – sein bevorzugtes Thema ist die Verrohung einer ethnisch bunt gemischten, abergläubischen und in isolierte Individuen zertrümmerten Unterschicht. Seine literarische Technik in Romanen wie „Night People“ oder „Baby-Cat-Face“ spiegelt dabei ihr Thema; seine Erzählungen sind in zwei bis drei Druckseiten umfassende Kapitel fragmentiert, in denen die Menschen meist nur noch durch den Austausch von Körperflüssigkeiten oder Projektilen miteinander in Kontakt treten. Der Erzählstrang ergibt sich mittels einzelner Figuren, die lange genug am Leben bleiben, um in mehreren Kapiteln wieder aufzutauchen. Eine bemerkenswerte Leidenschaft Giffords, dessen vielfältiges Werk Romane, Gedichte, Drehbücher und Bühnenwerke ebenso umfasst wie Filmkritiken, ist seine Vorliebe für altchinesische Poesie. So ist Takemitsu wohl über dessen Gedichte im Stil der Tang-Zeit auf Gifford aufmerksam geworden und hat ihn um ein Libretto gebeten, das – laut Gifford – vor allem ein „schönes Duett“ beinhalten sollte.

Giffords Technik und literarische Vorlieben prägen auch das Libretto von „Madrugada“. Statt der üblichen Einteilung in Akte gliedert der Autor das Geschehen in ein Vorspiel und 15 Einzelszenen, die den Strängen „Träume“, „Dialoge“ und „Die Tischsitten der Kannibalen“ zugeordnet werden. Dabei entwirft er das Bild eines Orwellschen Staates, über dem der Schatten einer vergangenen Katastrophe liegt, an die auf keinen Fall erinnert werden darf. „One generation is gassed. Another wiped out by a blast“, lässt Gifford seine Protagonistin singen und legt damit Spuren in Richtung Auschwitz und Hiroshima, nur um kurze Zeit später Yumi durch eine Stadt gehen zu lassen, die „an Algiers, Tunis oder Marrakesch erinnert“. Der Titel der Oper sowie die Namen von Yumis Freund Raul und der Weisen Lagrimas (Tränen) sind spanisch (oder sollen so klingen); „Yumi“ dagegen ist ein Kunstwort, das sich aus den japanischen Wörtern für Traum (yume), See (umi) und Jenseits (yomi) zusammensetzt. Bildzitate aus „King Kong“, „Frankenstein“ oder „Nosferatu“ erinnern an Giffords und Takemitsus Filmleidenschaft. In der neunten Szene sprechen die Mumien derer, die sich aus Angst vor dem Tod haben konservieren lassen, um die Zeit zu überdauern, ironischerweise in klassischen Haikus – einer Kunst im Präsens, die den erfüllten Augenblick zelebriert. So zeichnet Gifford durch sehr konkrete, aber polyglotte und in die verschiedensten Richtungen und Zeiten deutende Hinweise das Bild eines existenziellen Konflikts, der immer und überall stattfindet.

„Die Vielfalt dieser Bilder erfordert eine Vielfalt der Musik“, so bringt der Komponist Ichiro Nodaira seinen Ansatz zu „Madrugada“ auf den Punkt. Seine prägenden Lehrjahre verbrachte Nodaira in Paris, wo er am Conservatoire studiert und in späteren Jahren als Pianist beim „Ensemble Itineraire“ zahlreiche Werke von Komponisten wie Grisey, Murail, Manoury oder Benjamin uraufgeführt hat. Nach seiner Rückkehr nach Japan hat Nodaira sich dann als Pianist und Komponist verstärkt mit dem klassischen europäischen Musikerbe befasst. Für Kent Naganos Deutsches-Symphonie-Orchester orchestrierte er Bachs „Kunst der Fuge“, und als Pianist legte er eine Gesamtaufnahme von Beethovens Klaviersonaten vor. Neben solchen Denkmälern der Tonkunst steht in seinem Œuvre aber mit gleichem Recht ein Konzert „La Corde de Feu“ für den Rockgitarristen Steve Vai. Mit einigem Recht sagt Nodaira also heute von sich: „Mein Stil ist Vielfalt.“

Nodairas Beziehung zu Tôru Takemitsu ist im Wesentlichen musikalischer Art – er hat das gesamte Klavierwerk Takemitsus auf CD eingespielt; mit dem Menschen Takemitsu verband ihn dagegen wenig: „Wir haben mal ein paar Worte im Foyer eines Konzertsaals gewechselt.“ Anders als beispielsweise bei Friedrich Cerhas Vollendung der „Lulu“ – deren Ziel es war, Bergs Vorstellungen möglichst nahe zu kommen – ging es bei „Madrugada“ von Anfang an um eine eigenständige Neukomposition. Die drei Stränge des Librettos profiliert Nodaira dabei auch instrumentatorisch, indem er z.B. in den „Täume“-Teilen die Streicher in den Vordergrund stellt, während die „Tischsitten“-Abschnitte entweder von einer tumultösen Rockband oder von einem Kammerorchester aus hart klingendem Schlagzeug, Klavier und Solo-Instrumenten bestritten wird.

Nodairas Hautaugenmerk aber liegt auf den Gesangspartien. Einfache, gut zu intonierende Intervalle prägen die Partien von Yumi, Raul und Lagrimas. Yumi wird dabei durch die Quinte charakterisiert, die als Symbol ihrer keuschen Unbeugsamkeit steht – ein Holzbläserakkord aus reinen Quinten, der sie von Anfang an begeleitet, bewahrt seine Leuchtkraft auch in der immer brutaler werdenden Atmosphäre der späteren Szenen. Mindere Figuren, wie die Gefängniswärter, bringen es dagegen nach guter alter Operntradition kaum zu echtem Gesang, sondern verbleiben bei der gesprochenen Sprache. Und auch die Weise Lagrimas, die die Vergangenheit verkörperte, wird durch ein klassisches Tonsymbol, den „passus duriusculus“, eine Linie schmerzlicher, fallender Halbtonschritte charakterisiert.

Völlig verschieden von allen anderen Figuren ist der Hermaphrodit Azul, er verbindet die widersprüchlichsten Züge in sich: Der Zwitter ist seit Platons „Symposion“ eigentlich das Symbol eines vollkommenen, einigen Urzustandes des Menschen; Azuls schlangenbesetztes Gorgonenhaupt versinnbildlicht aber zugleich den Schrecken schlechthin. Nodairas Musik zeichnet ihn entsprechend: Als einzige Figur singt er in den Neue-Musik-typischen großen Sprüngen und dissonanten Intervallen, das Öbzöne seiner Person spiegelt sich in den vielen seufzenden und lasziven Glissandi. Trotz allem aber ist gerade Azul es, dem die zentralen Botschaften des Librettos in den Mund gelegt werden. Nach Yumis irrealer Erlösung durch die Wale singt der Hermaphrodit die entscheidenden Worte, deren visionärer Idealismus sich mit der Zweifelhaftigkeit ihres Sprechers die Waage hält: „The memory of love ist the saving grace of the human race.“