Ilja Stephan Musikpublizist

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Esa-Pekka Salonen - Kontakte mit der dunklen Seite

In Ihrem Programmtext zu "Insomnia" bezeichnen Sie das Stück als eine Folge von Variationen, nach den im letzten Jahr hier in Hamburg zu hörenden "LA Variations" also erneut ein Variationensatz - spielt die Variation in Ihrem Denken eine so große Rolle? mehr...


Esa-Pekka Salonen - "Ich will, dass Musik Teil der Gesellschaft ist"

Instrumentale Virtuosität hat Sie schon immer fasziniert. Warum hat es 28 Jahre gedauert, bis Sie nun Ihr zweites Konzert geschrieben haben? mehr...

Esa-Pekka Salonen - "Musik ist ein biologisches Phänomen"
in: Programmheft NDR Sinfonieorchester, 23.9.2005, S. 13 - 14  und DIE WELT, 14.9.2005, Hamburg-Teil, S. 40.

In "Wing on Wing" arbeiten Sie mit sound samples, die über Lautsprecher zugespielt werden. Wie wird das konkret realisiert, kommt der Klang von zwei Lautsprechern vorne auf der Bühne oder zirkuliert er im Raum?
Esa-Pekka Salonen: Der Klang soll im Raum zirkulieren; das wird mit einem Vierkanalsystem realisiert. Die samples wandern durch verschiedene Positionen, am Anfang kommt der Klang noch von vorne; im Mittelabschnitt, wenn der Ton des Fisches Plainfin Midshipmann zugespielt wird, beginnt er dann durch den Raum zu wandern.

Glauben Sie, dass das Konzept der Räumlichkeit in der Musik zukünftig wieder verstärkt eine Rolle spielen wird? Dergleichen gab es ja einmal mit der barocken Mehrchörigkeit, und jemand wie Stockhausen erträumt sich die Musik der Zukunft als eine, bei der die Klänge aus allen Richtungen kommen.
Salonen: Ich glaube nicht, dass die Zukunft der Musik so räumlich sein wird, wie es z.B. im Barock der Fall war. Die meiste Musik wird heute stereofon konsumiert, weil nun mal das Meiste, was heute gehört wird, von der CD, vom Mp3-file oder aus dem Radio kommt. Und was die Aufführung klassischer Musik im Konzertsaal angeht, so hat es natürlich spezifisch räumliche Musik in der Musikgeschichte gegeben, z.B. Monteverdis Vespern oder Berlioz' Requiem. Stockhausens Ideen zu einem multidimensionalen Klang sind in vieler Hinsicht revolutionär, aber ich glaube trotzdem nicht, dass dies die Zukunft der klassischen Musik sein wird. Räumlichkeit als ein Element in der Musik ist ein sehr interessantes und faszinierendes Phänomen. Aber es ist etwas dran an dieser Gegenüberstellung von Musikern auf der Bühne und dem Publikum im Saal - alleine die Sitzordnung schafft schon eine gewisse Dramaturgie.

Ist es nicht eine sehr künstliche Hörsituation, in der der Klang frontal von vorne kommt. Im "normalen" Hören kommt der Klang ja auch von allen Seiten, und mach ein Musikliebhaber versucht deshalb inzwischen mit Dolby-surround ein quasi-natürliches Hörerlebnis ins Wohnzimmer zu holen?
Salonen: In einer guten Konzerthalle hören sie ganz bestimmt nicht nur einen direkten Klang von vorne, da gibt es Tausende von Reflektionen von allen Seiten. Die "natürliche" Art des Hörens wäre das Hören im Freien. Wenn sie ein völlig "natürliches" Hören haben wollen, müssen sie in die Savanne gehen - was der ursprüngliche Lebensraum der menschlichen Rasse war. Sobald sie sich in einem Raum befinden, büßen sie Teile dieses natürlichen Hörens ein, weil die Klänge von allen vier Wänden reflektiert werden. Ich glaube nicht, dass solche "Originalklang"-Bestrebungen auf dem Feld des Hörens eine große Chance haben.
Maschinen
Welche Rolle spielt die Idee der Opposition von "Künstlichkeit" und "Natürlichkeit" in Ihrem Denken, zum einen, was Ihre eigene Musik angeht, zum anderen was Ihren Blick auf die Musikgeschichte angeht? Bei Ihrem anstehenden Konzert verbinden Sie Ravel, den Meister des Artifiziellen, mit Sibelius, den Sie selbst einen "Gärtner" genannt haben.
Salonen: Die Gegenüberstellung von "Mechanismus" und "Organismus" ist für mich ein fundamentaler Gedanke. Ravel ist ein Komponist, der musikalische Uhrwerke - kleine Maschinen, wenn sie so wollen - geschaffen hat. Sibelius war an Maschinen nicht interessiert, noch wäre er in der Lage gewesen, so etwas zu komponieren. Seine Art, Formen zu schaffen, erinnert an biologische Strukturen, die durch eine DNA bestimmt werden; sie sind gerade nicht aus kleinen Teilen zusammengesetzt, wie bei einer Maschine, sondern sind bestimmt durch einen Code, der sich multipliziert und auf diese Weise Entwicklung schafft. In Dingen der musikalischen Form ist dieser Gegensatz für mich ein wichtiger Grundgedanke. Aber dieser Gegensatz ist nicht absolut: Natürlichkeit und Künstlichkeit sind - optisch gesprochen - eher eine Frage der Auflösung. Unter dem Mikroskop betrachtet wird eine DNA aussehen wie eine Maschine, weil sie die verschiedenen Aminosäuresequenzen unterscheiden können. Und umgekehrt, wenn sie sich eine komplexe Maschine wie z.B. New York aus dem Weltall anschauen, dann wird es umso mehr wie ein Organismus aussehen, je geringer die Auflösung im Detail ist. Das ist ein faszinierender und komplexer Sachverhalt, weil sich semantische, physikalische und philosophische Fragen in ihm überlagern.

"Wing on Wing" ist ein Stück über das Verschmelzen von Natürlichem und Künstlichem?
Salonen: Es ist ein Stück über Naturmetaphern, die auf technischem Weg realisiert werden, über Naturmetaphern und wie man sie zum Funktionieren bringt.

Um einen ähnlichen Gegensatz dreht sich offenbar auch das, was Sie über das Phänomen des Ausdrucks denken. Sie halten den Ausdruck in der Musik nicht für eine geistige, sondern für eine körperliche, physiologische Angelegenheit?
Salonen: Ich glaube, dass Musik im Grunde ein biologisches Phänomen ist; sie ist Teil von uns als einer biologischen Spezies und nicht ein ursprünglich kulturelles Phänomen. In Musik geht es nicht um Ästhetik, es geht um uns als Gattungswesen und um unsere biologische Grundausstattung. Musikalischer Ausdruck ist nicht nur eine Sache der höheren Schichten des Bewusstseins, es ist ebenso sehr eine Sache des Körpers. Ich glaube, dass Musik und Sprache ursprünglich mal eins waren. Diese Rede aus Musik und Sprache wurde benutzt, um die tiefsten emotionalen Gehalte zu vermitteln. Die Sprache hat sich, so denke ich, von der Musik gelöst, als der Mensch sich niedergelassen hat und anfing Ackerbau zu treiben. Da brauchte man ein Instrument, um seine Umgebung exakt zu beschreiben und zu sagen: "Dort steht ein Baum", oder "Dies ist mein Land, das ist dein Land". Musik ist als eine tiefere Schicht in unserem Gehirn übrig geblieben; bis heute werden Musik und Sprache in ganz verschiedenen Hirnregionen verarbeitet. Deshalb glaube ich auch nicht, dass man Musik als ein rein cerebrales Phänomen beschreiben und analysieren kann.
Hegel
Musik gilt als eines der künstlichsten Dinge, die der Mensch geschaffen hat. Eine berühmte Definition lautet, Musik sei "Arbeit des Geistes in geistfähigem Material".
Salonen: Da bin ich völlig anderer Meinung. Ich halte Musik für das konkreteste, was der Mensch je geschaffen hat. Musik ist eine soziale Funktion des Menschen. Musik als "Geist" ist eine Idee deutscher Philosophen der 19. Jahrhunderts. Musik ist ebenso wenig Geist wie unserer Stoffwechsel oder unser Fortpflanzungsapparat. Wir können gewisse Funktionen unseres Reproduktionsapparates in poetischen Termini wie "Liebe" oder "Lust" beschreiben und sie mit romantischen Konzepten belegen, aber im Grunde bleiben sie ein biologischer Sachverhalt. Das gleiche gilt für Essen oder Wein, es bleibt dabei, dass wir diese Dinge verzehren und z.B. in Energie verwandeln. Das macht einen edlen Wein als Phänomen nicht minder faszinierend.

Sie sprechen von Musik und ihrer sozialen Funktion. Ihre neue Konzerthalle, die Walt Disney Concert Hall, ist als ein Aushängeschild der Hochkultur in einen Teil von downtown Los Angeles gebaut worden - quasi eine Stadtentwicklungsmaßnahme, die Publikum und Leben anziehen soll. Funktioniert dieses Konzept?
Salonen: Als die Idee zu Disney Hall Ende der 1980er-Jahre geboren wurde, war es noch kein Stadtentwicklungsprojekt. Einige Leute hatten einfach die visionäre Idee, eine Konzerthalle von internationalem Niveau mitten hinein in dieses urbane Desaster eines nicht besonders schönen Stadtteils zu bauen. Dieses Projekt war derart utopisch, dass es eine sehr lange Zeit gebraucht hat. Aber jetzt wo die Halle da ist, steht sie in Verbindung mit anderen Projekten wie z.B. einer Sportarena oder der "Our Lady of the Angels"-Kathedrale, und alle diese Dinge zusammen haben downtown Los Angeles wiederbelebt. Die Politiker haben inzwischen das Potenzial dieses Stadtteils erkannt, und jetzt wird ein großes Stadtentwicklungsprojekt geplant - als Disney Hall konzipiert wurde, war an so etwas noch nicht gedacht worden. Es hat sich in der Tat viel verändert, Dinge die sie messen können und solche, die sich nicht messen lassen. Die Anzahl der Besucher von downtown Los Angeles ist erheblich angewachsen, der Umsatz der umliegenden Geschäfte ebenfalls, die Leute kommen von weit her, um sich vor Disney Hall fotografieren zu lassen. Beinahe jeder Auto-Werbespott in den USA zeigt inzwischen die Walt Disney Concert Hall - als ein Symbol der Verbindung von Technik und menschlichen Werten, oder was auch immer. In einem gewissen Sinne ist die Halle ein Teil des mainstream geworden.

Gibt es ein bestimmtes Programmkonzept für diese Halle? Was für Musik kann man bei Ihnen hören?
Salonen: Sie können eine sehr große Bandbreite an Musik hören: Barockorchester, Musik von Xenakis, Berio, John Adams, Cher, Barbara Streisand, Beethoven, Bruckner oder japanische Gagaku-Ensemble, Jazz oder Kammermusik. Ich genieße die Idee der Konzerthalle als eines Füllhorns von Musik. Etwas, das seine Umgebung stimuliert. Ich sehe sie nicht als etwas Exklusives, sondern als einen Ort, der dazu gemacht ist, Debatten, Energie und Enthusiasmus zu erzeugen. Ein Ort, der völlig offen und einladend ist, und eine Quelle von Freude, Befriedigung und Herausforderung.

Wenn Sie als Dirigent und Komponist die Chance hätten, ganz nach Ihren eigenen Ideen eine Stätte zum Spielen und Hören von Musik zu schaffen, wie würde die aussehen?
Salonen: Ich bin in der glücklichen Lage gewesen, während der Planungsphase der Disney Hall zahllose Stunden mit Frank O. Gehry zu verbringen und mit ihm über die Idee einer Konzerthalle und darüber, was Musik in der Gemeinschaft bedeutet, zu reden. Jedes Mal wenn ich die Disney Hall betrete, weiß ich, dass ich in meinem Leben nie wieder so nah daran sein werde, einen solchen Raum mitzugestalten. So gesehen, bin ich zufrieden. Ich war über 15 Jahre lang am Prozess dieser Halle beteiligt und nun ist sie da.

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