Ilja Stephan Musikpublizist

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Isang Yun - Die fünf Symphonien Auf die Herausforderungen einer Biografie, die ihn unmittelbar mit Krieg, Diktatur und Teilung konfrontiert, antwortet Isang Yun mit dem gelebten Entwurf eines Mensch, der im Spannungsfeld der Gegensätze sein Gleichgewicht zu wahren sucht. mehr...


Isang Yun - Kontinuität als Schaffensprinzip

Über zyklische Zusammenhänge im Werk von Isang Yun. mehr...


Isang Yun - Bibliografie

Hauptanliegen dieser Zusammenstellung ist es, alle bekannten Selbstzeugnisse Yuns zu verzeichnen. mehr...

Musik als Sinnbild
Vorstellungshintergründe, biografische Erfahrung und musikalische Strategien im Werk von Isang Yun

Wer festhält das große Urbild, zu dem kommt die Welt.
Laotse, Tao te king


Das Bild
Wenn man sich fragt, was das Besondere der Persönlichkeit Isang Yuns ausmacht, so ist es wohl vor allem die äußerste Konzentration mit der sich alle seine Lebensschritte, musikalischen Werke und erläuternden Einlassungen auf den einen immanenten Zusammenhang beziehen. Leben und Kunst sollen bei ihm offenbar dasselbe bezeugen - und beides zu einer abgeschlossenen, in sich stimmigen Sinnfigur zu vollenden, scheint die Leitvorstellung zu sein, die hinter sämtlichen von Yuns Kundgebungen steht. Suchte man für diesen Zusammenhang des Menschen Isang Yun mit seiner Musik, den Zusammenhang der Musik mit ihrer Zeit und den Zusammenhang der Zeit mit der Biografie des Menschen Isang Yun ein Symbol, könnte dies wohl kaum ein anderes sein, als jenes Fresko in einem nordkoreanischen Königsgrab, das Yun selber zum zentralen Bild seines Lebens gewählt hat. Um dieses Freskos willen war er 1962 in den Nordteil seines von Krieg und Großmachtinteressen geteilten Vaterlandes gereist, und u. a. um dieser Reise willen saß er sechs Jahre später zum Tode verurteilt im Gefängnis des südkoreanischen Geheimdienstes. In dem jahrhundertealten Bild hat Yun die Wahrheit seiner persönlichen Existenz ergriffen: die Verwobenheit der eigenen Biografie in die geschichtliche Konstellation seiner Gegenwart - und die zeitlose Gültigkeit der im Bild symbolisierten Einheit im Wandel in der für ihn so leidvollen, von Kaltem Krieg und Teilung bestimmten Situation.

Die Erfahrung dieses Bildes, das ihn noch während seiner Gefängniszeit - und nach einem Selbstmordversuch - zu dem Stück Images anregte, hat Yun verschiedentlich in Worte zu fassen versucht. Was er dabei beschreibt, ist eine Art Vexierbild, bei dem die verschiedenen Elemente - vier mythologische Tiere - so ineinander verschlungen sind, dass sie ein Ganzes ergeben. Allerdings offenbaren sich dem Betrachter, wie bei Vexierbildern üblich, nicht alle Elemente und Sichtweisen des Bildes auf den ersten Blick, sondern die Teile und ihr Zusammenhang treten erst im Zuge der Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven hervor. Entscheidend ist dabei das Verhältnis von Sein und Werden. Denn das Bild ist und bleibt, was es war: Ausdruck eines überzeitlichen Zusammenhanges. Nichts wird ihm hinzugefügt, nichts von ihm weggelassen. Was dynamisch ist, was in der Zeit erscheint, weil es sich vollzieht, ist der Prozess des In-den-Blick-Bekommens, das Aufgehen des Zusammenhanges für den Betrachter. Ihm wächst die immer schon vorhandene Totalität des Bildes in der Arbeit seiner Betrachtung zu. Leben, Geschichte und Wirklichkeit, so erfährt es Yun an und mit dem Fresko, sind ein von Moment zu Moment, von Blickwinkel zu Blickwinkel sich vollziehendes Auslegen eines ursprünglichen Sinns.

Die Zeit
Bei seinem Versuch, Yuns geistige Welt dem westlichen Hörer zu vermitteln, weist Günther Freudenberg vor allem auf eine vom europäischen Verständnis grundlegend verschiedene asiatische Zeitauffassung hin. Dass die Dinge nacheinander passieren, ist eine natürliche und unmittelbare Erfahrung. Die Unterschiede der Kulturen und Lebenswelten ergeben sich erst aus den Interpretationen dieses Faktums - also den Ordnungen denen der Lauf der Zeit unterworfen wird. So ordnen mythisches oder naturphilosophisches Weltverständnis die Zeit zyklisch entlang wiederkehrender Feste und Ereignisse. Das dem modernen Hörer naheliegendste Verständnis ist vermutlich das teleologische, das die Zeit als lineares Fortschreiten auf ein Ziel hin begreift. Der einzelne Zeitpunkt wird hier im Zuge des Vorwärtsdrängens als Entwicklungsstufe bezogen auf das Ziel erlebt. Im asiatischen Zeitverständnis, wie Freudenberg es unter Berufung auf den Philosophen Izutsu beschreibt, zeichnet sich dagegen ein Zeitpunkt nicht durch seine Beziehung zu anderen Punkten aus, sondern jeder Moment erhält seinen Wert durch seine Beziehung zum "Seienden" - also zu etwas, das selber über der Zeitlichkeit und dem Nacheinander steht. Der einzelne Moment wird als Präsenz des "Seienden" verstanden, und kraft dieser Teilhabe an einem Ganzen stehen alle Momente gleichberechtigt und in loser Folge nebeneinander:

 "Vielmehr tritt alles Seiende in jedem Augenblick der Gegenwart immer wieder neu hervor und ist (...) eine Sukzession des Nichtsukzessiven. Die ,existierende Welt tritt in jedem Moment neu hervor, und die Zeit bildet sich in jedem dieser Momente als das Jetzt, das durch Vorher und Nachher getrennt ist.' Im Moment des Jetzt ist alles Existierende da, auch das Zeitliche, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft." 1)

Die Besonderheit der asiatischen Zeitauffassung und ihre Konsequenzen für den Tonsatz sind auch die ersten und wichtigsten Punkte, die Peter Revers bei seinem Versuch einer Typologie ostasiatischen Komponierens heraushebt. Unter Berufung auf den Komponisten Kazuo Fukushima betont Revers den Primat des Augenblicks, des einzelnen Momentes vor dem Fluss der Zeit - wobei dieser Augenblick sich dadurch auszeichnet, dass er als eine im Bewusstsein des Betrachters sich einstellende Gegenwärtigkeit aller Augenblicke, eines un- oder überzeitlichen Zusammenhanges verstanden ist.

"Bedeutsam ist hierbei die Auffassung von Zeit nicht als ,ununterbrochener Fluß (...), sondern als eine Nacheinanderfolge getrennter, innerlich voll gelebter und ins volle Bewußtsein gehobener Augenblicke. Der Augenblick ist in sich absolut, obwohl sein Dasein durch das Ineinanderspielen aller Augenblicke zustande kommt.'" 2)

Yun selber hat das Problem der unterschiedlichen Zeitauffassungen, das für ihn eine der wesentlichen Schwierigkeiten beim Verständnis seiner Musik durch ein europäisches Publikum darstellte, an dem Stück Images festgemacht. 3) Dabei bietet Images sich zur Erläuterung der scheinbar paradoxen asiatischen Zeitauffassung gerade deshalb an, weil hier ganz explizit ein Bild - das nicht etwa ein Geschehen oder eine Szene, sondern einen Zustand darstellt - zur Vorlage für einen musikalischen Ablauf wird. Diese grundlegende Bedeutung, die bildliche Vorstellungen für sämtliche Musik Yuns haben, wird auch von allen mit Yun persönlich vertrauten Interpreten seiner Musik immer wieder hervorgehoben:

"Oft hat er mit Hand- und Armbewegungen gezeigt, wie er sich diese Geste vorstellte, oder hat auf bestimmte Bilder und Fresken seiner Heimat hingewiesen, die diesen Schwung auf bildnerische Weise darstellen. Gemeinsam haben wir das berühmte Große Grab in Kangso (6./7. Jahrhundert) besucht, wo u. a. ein Zwitterwesen zu sehen ist. Dort sagte er: ,Schau mal, so mußt Du Dir das vorstellen, das ist meine Musik. Ähnlich war es im Kunstmuseum in P'yongyang, wo er mit Armgesten den Schwanz eines Drachens ,nachmalte' und sagte: ,Dieser Schwung, das ist genau das, was ich in Musik komponiert habe.' Das war sehr anschaulich. Er hatte eine sehr genaue Vorstellung vom gestischen Ablauf seiner Musik." 4)

Der hierbei besonders betonte Begriff des "Schwunges" - von dem bei einem Bild streng genommen nur im übertragenen Sinne die Rede sein kann - zeigt, wo die bildnerische Vorlage der Umsetzung in Musik entgegenkommt, und wie das Verständnis der Zeit in dieses Verhältnis hineinspielt. Denn gerade die asiatische Malerei ist im Bild festgehaltene Bewegung. Sie ist Darstellung des Lebens selber, indem sie Menschen, Tiere oder Naturphänomene im Akt der Bewegung einfängt - und zwar in jenem Moment, wo diese den Punkt des Gleichgewichtes durchläuft. So ist auch die statische Kunst der Malerei ihrer Idee nach Präsenz von Aktion und Lebendigkeit, sie zeigt den erfüllten Augenblick. Und für die asiatische Malerei wie für Yuns Musik ist die Figur gewordene Dynamik einer Bewegung, die Geste, das Entscheidende. Der Komponist Yun reiht in seiner Musik eine Vielzahl solcher Gesten zur ,Nacheinanderfolge von Augenblicken'.

Images (1968)
Wenngleich es Stücke gibt, die für die öffentliche Anerkennung Yuns wichtiger waren (Réak), oder die das Ganze seiner geistig-musikalischen Welt viel weiter entfalten (Symphonien), gibt es doch kein Stück, dass die Vermittlung von philosophischer Weltsicht, existenzieller Bedeutung und musikalischer Vorstellungen im Werk Yuns besser bezeugen könnte als Images. In diesem Sinne ist Images der Solarplexus des Yunschen Œuvres.

Am Anfang dieses Stückes legt Yun die Grundlagen seines Musikdenkens mit geradezu didaktischer Deutlichkeit dar. Die Reihe von Images besteht, wenn man ihre Töne zu Paaren (1+2; 2+3 etc.) gliedert, ausschließlich aus den Grundbausteinen von Yuns Klanggestaltung, kleinen Sekunden und Terzen (bzw. deren Umkehrungen). Diese Intervallstrukturen werden in einem ersten Durchlauf (T. 1) der Reihe exponiert, indem die Intervallpaare als Zweiklänge auf die beiden mehrstimmigen Instrumente Cello und Violine verteilt werden. Doch schon im nächsten Durchlauf der Reihe (T. 2 - 3) schafft Yun aus diesem einfachen Anfang heraus neue Konstellationen, indem er Einzeltöne einführt - wodurch sich die Paarbildung der Reihentöne teilweise auflöst oder verschiebt -, und indem er die Intervallkonstellationen, die aus dem ersten Reihendurchlauf schon bekannt waren, beim zweiten Mal in eine andere Oktavlage verlegt. Ein erstes Glissando (T. 5) leitet dann nahtlos zu dem Einsatz der Bläser über, deren lang gehaltenen ersten Töne gleichzeitig die Zieltöne des auf einem scharfen Akzent abreißenden Violin-Glissandos (A-Cis) sind. So werden im steten Wechsel Intervallkonstellationen, die vier Instrumentalfarben, Gesten und Spielweisen miteinander vermittelt.

 Beispiel: Images, T 1 - 5

 Images

 
Innerhalb dieses Wechsels ist dabei jeder Moment gleichberechtigt - anders als bei einer Kadenz, deren musikalische Logik Hierarchie, Auflösungsbedürftigkeit und somit Gerichtetheit auf ein Ziel vermittelt. Jeder Moment geht hier aus dem Wechsel einer begrenzten Anzahl von Elementen hervor, und es ist - wie bei den Drehungen eines Kaleidoskops - keines der von Augenblick zu Augenblick sich ergebenden Bilder wichtiger, sondern nur "substanziell anders" als das vorherige. Yuns Stück könnte im Prinzip ohne jeden Anfang und ohne jedes Ende fortklingen - dass er den Anfang noch durchsichtiger gestaltet, ist mehr ein Entgegenkommen an das Hören.

Kompositionstechnisch bewegt sich Yun mit einem solchen reihentechnisch gebundenen, konstellativen Musikdenken noch deutlich in den Kategorien der damaligen Avantgarde. Doch ist bei ihm die Struktur nie Selbstzweck, sondern schon der Wandel des immer Gleichen hat bei dem Taoisten Yun eine metaphorische Dimension. Seine kompositorische Arbeit zielt darauf, aus dem auf den ersten Blick unüberschaubaren Wandel der Konstellationen durch Gliederung der Form und Betonung einzelner Gesten Bedeutsamkeit und Sinnfälligkeit herauszuschälen.

So gliedert sich die Großform des Stückes in zwei Teile, die durch eine Generalpause (T. 146) getrennt sind - in dem auf Nahtlosigkeit bedachten Stil Yuns ist dieses jähe Abschneiden des Klangstromes ein singuläres Ereignis. Auch die Proportionen der beiden Teile orientieren sich an einer Vorstellung, der im Yunschen Denken und der Formgestaltung vieler seiner Stücke eine besondere Bedeutung zukommt: dem Punkt des Gleichgewichts, verstanden als die rechnerische Mitte eines Stückes. Mit einer Gesamtlänge von 288 Takten wird Images von der Generalpause fast genau in der Mitte geteilt. 5)

Den zweiten Teil nach dieser Generalpause eröffnet ein Abschnitt dessen Eigenart Sparrer als "konflikthaftes ,Auseinanderlaufen'" der Stimmen bezeichnet. 6) So werden die vier Stimmen hier (T. 147ff) ohne jede erkennbare Kommunikation untereinander in eine Reihe kurzer, heftiger Gesten und scharfer Attacken aufgelöst - das sonst bei Yun so wichtige Strömen der Musik wird zur Abfolge von Fragmenten zerhackt. Dieses "Auseinanderlaufen" der Stimmen - als Auflösung in einen seriellen-pointilistischen Gestus gestaltet - steht so als Metapher des Abschneidens von Kontinuität und der Bedrohung der inneren Balance aller Teile des Ganzen.

Ein kurzer Zwischenabschnitt (T. 210-227) kehrt zum Ursprungstempo zurück und knüpft mit seinem ersten Klang an den Beginn des Quartettes an - dieser Abschnitt ist also ansatzweise als Reprise zu betrachten. Doch erst im letzten Abschnitt des Werkes (T. 228-288) vereinigen sich die Instrumente endgültig zu einer "ineinander verschlungenen Einheit" (Yun), indem sich je drei der Stimmen auf lang gehaltenen, rhythmisch homophonen Hauptklängen in höchster Lage treffen - wobei der Lage wegen ihre Klangfarben miteinander verschmelzen. In den letzten Takten des Stückes schließlich schält sich aus dem steten Wandel des Yunschen Tonsatzes eine einzige rudimentäre Gestalt heraus. Acht Mal hintereinander "insistiert" die Oboe auf dem kleinen Sekundschritt A-B, mit dessen aufwärts weisender Bewegung als letztem Schritt die Musik schließlich verklingt. 7)
Die Symphonien (1982 - 1987)
Dass er einmal Symphonien schreiben würde, wusste der Komponist Isang Yun offenbar schon zu Beginn seiner Karriere. So berichtet Sparrer von einem Brief Yuns aus den fünfziger Jahren, in dem er einen "Fahrplan" seines noch zu schreibenden Œuvres mit der Symphonie an der Spitze entwirft. 8) Und als er diesen Anspruch einzulösen beginnt, Anfang der achtziger Jahre, bezeichnet Yun die Symphonie rückblickend als "Synthese aller bisher geschriebenen Stücke" - im Sinne des Komponisten ist also sein gesamtes Werk (zumindest das in Europa entstandene) offenbar als ein Zusammenhang zu verstehen, bei dem jeder Teil in Bezug zum Ganzen gesehen werden muss. Dabei hat seine Musik seit Images eine beträchtliche stilistische Entwicklung durchlaufen, und neben der Umstellung von einem dodekaphonen zu einem diatonischen Tonmaterial hat Yun auch eine deutliche Annäherung an Formmodelle und Musizierweisen der westlichen Tradition vollzogen. Neben den biografischen Gründen, die zur Erläuterung dieser Entwicklung meist herangezogen werden, kann man hierin durchaus auch einen Zug der Zeit sehen, denn wie Yun haben auch andere Vertreter der Neuen Musik Anfang der achtziger Jahre begonnen, sich auf das klassisch-romantische Erbe zu besinnen.

Trotz der äußerlichen Umstellung ändert sich der Kern seiner Musikauffassung jedoch nicht - eher hat Yun, um im Bild zu bleiben, seinen alten Themen gegenüber eine neue Perspektive eingenommen. Bekannte Vorstellungen werden in neue kompositorische Kunstgriffe gefasst: so weicht der kaleidoskopische Wandel reihentechnisch festgelegter Intervallverhältnisse dem Fluktuieren der harmonischen Hemisphären A und Es. Betrachtet man aber den dreistündigen Klangstrom der Symphonien als Gesamtheit, so zeigt sich hinter dem Fluss kleinster Details wie in Images ein räumliches Ordnungsprinzip: die Symmetrie. Die am größten besetzten und umfangreichsten Stücke (Symphonie I und V) bilden die Außenteile des Zyklus, das kürzeste Stück (Symphonie III) steht in der Mitte. Die fünfzehn Sätze aller fünf Symphonien sind dabei so disponiert, dass die Symphonien I (4 Sätze) und II (3 Sätze) ebenso wie die Symphonien IV (2 Sätze) und V (5 Sätze) zusammen sieben Sätze umfassen. Die dritte, einsätzige Symphonie ist in sich dreiteilig symmetrisch gegliedert - der langsame zweite Abschnitte der dritten Symphonie bildet somit das Kernstück des Zyklus. 9)

Symphonien Schema


Alles bloße Nacheinander, die Sukzession der Momente und alle linearen Entwicklungen sind aufgehoben in einer unzeitlichen geometrischen Ordnung. Jeder individuelle Moment des Zyklus ist Teil des übergeordneten Zusammenhanges, der durch das ,Ineinanderspielen aller Augenblicke' zu Stande kommt, ohne dass sein Wesen deshalb zeitlich wäre. So nähert sich Yun, soweit es im Rahmen eines musikalischen "Werkes" irgend möglich ist, seiner Vorstellung, dass Musik nur momentane Präsenz eines ewigen, vom Menschen unabhängigen Klanges sei. Alle menschliche Musik ist für ihn nur "Ausschnitt" aus diesem Klang, der vom Musiker "aufgenommen" werde. Ähnlich wie bei den Überlegungen zum asiatischen Verständnis der Zeit findet sich hier der Gedanke, dass alles Einzelne, Menschliche seinen Sinn aus der Teilhabe an einem übergeordneten Ganzen bezieht - so wie die Malerei die Lebendigkeit selber darstellt, indem sie die Bewegung eines Schwunges im Bild einfängt.

Jenseits der Mitte dieses wohlgeordnetem Symphonienkosmos aber steht eine Katastrophe. Im dritten Teil der Dritten Symphonie kommt es zu einem für Yuns Verhältnisse ungewöhnlich brutalen Ausbruch reinen Sonorismus. Die metaphorische Logik dieser tumultösen Passage und ihre Stellung im formalen Zusammenhang ist dabei dieselbe wie in Images - nur dass Yun den Gedanken knapp zwei Jahrzehnte später ungleich eindeutiger und schlagkräftiger formuliert. Von der Mitte des Klangraumes aus laufen zwei Klangbänder, ein hohe Schicht der Streicher und Holzbläser mit flirrenden Akkordtremoli und ein brutales "Glissando" des Blechs, in entgegengesetzter Richtung zu den äußersten Rändern des Tonraumes auseinander (T. 249-267). Hier wie dort steht dieses "konflikthafte Auseinanderlaufen" für Dissoziation, Verlust des Gleichgewichtes und des inneren Zusammenhanges und markiert gleichermaßen den Abgrund des Yunschen Weltbildes sowie den Tiefst- und Wendepunkt im Gang des jeweiligen Stückes.

In solchem Chaos endet für Yun auch die Musik, und es braucht fast den gesamten Rest des Zyklus, bis gegen Ende des vierten Satzes der Fünften Symphonie mit dem Gedanken der "wiedergefundenen Melodie", die der "Wind musikbelaubt in Nacht versteckt" hat, die Vision einer Lösung aufscheint. Für den Asiaten Yun ist aller Moderne zum Trotz Musik der Inbegriff des Zusammenstimmens von Mensch und Welt. (Der tiefe und im Laufe der Zeit immer deutlicher hervortretende musikalische Konservativismus Yuns hat mit Sicherheit in dieser Auffassung seinen Ursprung.) Und so wie Yun unter den schwierigsten Bedingungen selbst während seiner Haftzeit komponiert hat, ist er auch mit dem Symphonienprojekt bestrebt, diese besondere Qualität der Balance, als deren Ergebnis das Gelingen von Musik sich einstellt, zu bewahren - weshalb die Musik bei Yun letztlich ebenso eine handwerklich-künstlerische wie existenzielle Leistung ist.

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1) Freudenberg, Günther: Vom Tao. Zur Frage des Verstehens in Ostasien und Europa, in: Ssi-ol. Almanach 1998/1999, S. 21-36, hier S. 33.
2) Revers, Peter: Die Gestaltung von Ton und Klang als dramatischer Prozeß. Bemerkungen zum Schaffen Isang Yuns und Kazuo Fukushimas, in: Österreichische Musikzeitschrift 37, 1982, S. 78-79, hier S.82/83.
3) "In Europa gibt es ein vollkommen anderes Zeitgefühl. Mit europäischen Ohren und aus der europäischen Tradition heraus kann man dieses Stück (Images, d. Verf) und diese Zeit-Vorstellung vielleicht nicht ganz genau verstehen. (...) Der Moment ist wichtiger als die Dauer und die Beziehung zu vorherigen und späteren Teilen. Die Musik geht wellenartig, aber jede Sekunde ist substantiell anders als die vorherige." (Yun, Isang: Über meine Musik, in: Heister/Sparrer [Hrsg.]: Der Komponist Isang Yun [2.Auflage], S. 297-313, hier S. 303.)
4) Staege, Roswitha: "Akzent bedeutet einen Anfang mit Impuls und blitzartigem Zurückgehen", in: Ssi-ol. Almanach 1998/99, S. 183 - 190, hier: S. 184.
5) Man kann hier, wie immer bei Yun, nur von der Orientierung an einem Leitgedanken sprechen, denn auch die Symmetrie in der Formgestaltung ist zwar deutlich genug, um stets als Prinzip erkennbar zu sein, aber zu unscharf, um mit rechnerischer Perfektion aufzugehen - in diesem Fall wird der genaue Punkt der Mitte um einen Takt verfehlt. (Vgl. auch Fußnote 9.)
6) Sparrer, Walter-Wolfgang: Images, in IYG 001, CD-Booklet, Seite 13.
7) In fallender Richtung durchzieht diese kleine Sekunde eine Vielzahl von Werken der siebziger und achtziger Jahre; sie bleibt seit der Zeit von Images eines der wichtigsten Tonsymbole der Yunschen Klangsprache. So beginnt etwa der Symphonienzyklus mit diesem Schritt B-A, der sich als traditionelle Chiffre des Schmerzes durch alle fünfzehn Sätze zieht, bis er im letzten Satz der Fünften Symphonie (Frieden) in dem bedeutungsvollen Tonsymbol B-A-C-H aufgeht. (Vgl. Stephan, Ilja: Isang Yun. Die fünf Symphonien. Eine hermeneutische Rekonstruktion, in: Metzger/Riehn (Hrsg.): Musik-Konzepte Bd. 109/110, S. 156f.)
 8) Mündliche Mitteilung auf dem Yun-Symposium 1999.
 9) Wie Ae-Kyung Choi in ihrem Referat beim Yun-Symposium 1999 dargelegt hat, lässt sich dieser Befund einer Symmetrie um das Kernstück herum bis in die Anzahl der Takte hinein bestätigen. So umfassen die Symphonien I und II und der erste Teil der Symphonie III zusammen 1054 Takte, der andere Flügel, die Symphonien IV und V und der dritte Teil der Symphonie III, umfassen zusammen 1058 Takte.

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