Ilja Stephan Musikpublizist

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Krzysztof Penderecki - Ein Vertreter der großen Form
in: Welt am Sonntag, 29.6.2003, Hamburg-Teil, S. 89. und Programmheft NDR Sinfonieorchester 28./30.9.2003.

Bei Ihnen zu Hause in Polen hat man gerade mehrheitlich beschlossen, der EU beizutreten - wächst nun auch auf europäischer Ebene zusammen, was zusammengehört?
Penderecki: Das war ein großes Ereignis für uns Polen. Ich war auf Reisen und habe meine Stimme in der Botschaft in Spanien abgegeben. Nicht alle sind sich einig - das ist ja auch in anderen Ländern so -, aber die große Mehrzahl derer, die gewählt haben, war dafür. Natürlich wird nicht alles sofort besser werden, man bekommt schließlich nichts geschenkt, aber wir haben keine andere Möglichkeit. Mit wem sollten wir zusammengehen, mit der Ukraine, mit Belorussland, mit Russland? Nein, die Erfahrung hatten wir schon.

Sie arbeiten viel mit osteuropäischen und baltischen Musikern zusammen, bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern etwa leiten sie das Litauische National Symphonieorchester und den Kaunas Chor. Gibt es da ein länderübergreifendes Zusammengehörigkeitsgefühl?
Penderecki: Polen war 600 Jahre lang mit Litauen verbunden, Lettland war sehr stark von der deutschen Kultur beeinflusst. Man kann getrost sagen: Nach jahrzehntelangen schlechten Erfahrungen kehren wir nun zurück nach Europa. Ich fahre sehr oft nach Litauen, um dort zu Dirigieren; die alten Verbindungen muss man pflegen. Und es gibt dort sehr gute Musiker, je weiter man nach Osten kommt, umso besser werden sie. Allerdings hatte Polen immer eine Sonderrolle. Wir waren freier als andere Ostblockstaaten, unsere Kultur, vor allem Theater und Musik, hat sich sehr stark entwickelt, viel stärker als vor dem Krieg, weil wir anders sein wollten.

Bei Ihrem 1979/80 geschriebenen "Te Deum", das Sie bei den Festspielen aufführen, haben Sie dort, wo es im Text heißt, "Herr, rette Dein Volk" einen polnischen Hymnus zitiert - eine politische Pointe in brisanter Zeit?
Penderecki: Das "Te Deum" ist ein ganz besonders Stück für mich. Ich habe es spontan geschrieben, als die Wahl des Kardinals von Krakau zum Papst bekannt wurde. Damals war ich gerade zu Proben in Chicago, als die Musiker mit Blumen und einer Torte zu mir kamen und mir die Nachricht überbrachten. Bei dem Zitat handelt es sich um ein geistliches Lied, das in schwierigen Perioden unserer Geschichte immer wieder gesungen wurde. Oft war es ganz verboten, etwa in Russland und Preußen während der polnischen Teilung. Ich wollte das Stück durch das Zitat und die Widmung an Johannes Paul II mit Polen verbinden.

Waren Sie damals schon mit Karol Woityla befreundet?
Penderecki: Ich kenne ihn noch aus Krakau, als er Anfang der 50er-Jahren am dortigen Priesterseminar studierte. Damals habe ich eine Bühnenmusik geschrieben für ein Stück, in dem er als Schauspieler mitgewirkt hat - obwohl er das eigentlich gar nicht durfte. Er war in jener Zeit sehr fortschrittlich, eigentlich ein Avantgardist. Er kam auch zu Jazz-Konzerten, die waren damals so gut wie verboten, so etwas konnte man nur in irgendwelchen Kellern hören.

Johannes Paul II ist nicht der einzige, der früher mal Avantgardist war ...
Penderecki: Es ist so viel entstanden in der Zeit in Polen. Ich habe als Avantgardemusiker eigentlich nur begonnen geistliche Musik zu schreiben, weil das damals verboten war. Ich wollte zeigen, wo ich stehe. Und ich habe mich auch für Jazz interessiert, weil er neu war bei uns und weil er verboten war.

In Ihrem 1998 veröffentlichten Buch "Labyrinth of Time" ziehen Sie eine verheerend negative Bilanz der gegenwärtigen kulturellen Situation.
Penderecki: Ich denke, dass ich doch mit vielem recht habe, weil die Entwicklung tatsächlich in eine falsche Richtung geht. Heute gilt Populismus um jeden Preis. Das können Sie auch in der Musik beobachten, es gibt immer weniger Interesse für Klassik, stattdessen werden wir von einer Massenkultur überflutet. Vor allem für die jungen Leute wird das Folgen haben, die werden später keinen Zugang mehr finden zur klassischen Musik.

Sie beschreiben Ihre Musik und Ihr Arboretum, in dem Sie über 1500 Baumarten versammelt haben, als Arche Noah, in der Sie alles, was Ihnen wichtig ist, über die Sintflut retten.
Penderecki: Das war nur eine Licentia poetica. Ich bin einer der letzten Vertreter der großen Form, der alles schreibt: Symphonien - die sind mein Hauptwerk - Opern, Oratorien, Konzerte und Kammermusik. Ich arbeite so, wie ein Komponist des 19. Jahrhunderts, der alles können musste, auch Dirigieren. Heute haben wir nur Spezialisten oder Leute, die am Computer basteln, da entsteht natürlich eine ganz andere Musik. Ich glaube an Musik, die Wurzeln hat. Und die europäische Musik hat Wurzeln, die man nicht vergessen darf - wenn man es kann. Ich bin ein ernster Komponist, der die Welt so sieht, wie Sie vielleicht heute gar nicht mehr da ist, wie sie in meiner Kindheit war. Die Welt geht in eine ganz andere Richtung, und wenn man da nicht mehr mitmachen will, muss man sich vielleicht in seinem Labyrinth verstecken und sich dort seine Wege suchen - und Umwege vor allem.

In Ihrem Buch kommen Sie zu dem Schluss, dass wenn die Welt so heillos ist wie im Moment, nur noch der Weg zurück in die Vergangenheit offen steht.
Penderecki: Nein, was ich sagen wollte, ist, dass man nicht immer den geraden Weg nehmen kann, sondern durch einen Irrgarten gehen muss, dass heißt, mitunter auch zurückzugehen, um voranzukommen, und dass man nicht nur nach vorne Wege öffnet, sondern auch nach hinten, um aus der Geschichte zu lernen.

Gibt es Labyrinthe vielleicht nicht nur in Ihrem Arboretum, sondern auch in Ihrer Musik?
Penderecki: Nein, das wäre zu einfach, so etwas zu schreiben. Mit dem Labyrinth meine ich vielmehr eine bestimmte Art des Denkens, das ganz bewusst in der Tradition wurzelt.

Gerade das wird Ihnen oft vorgeworfen.
Penderecki: Wissen Sie, meine Werke werden überall gespielt, und man versteht meine Musik. Vielleicht auch deshalb weil sie Wurzeln hat. Es ist so, ich habe meine Entdeckungen sehr früh in meinem Leben gemacht, in den 50er-Jahren. Ich habe damals das getan, was andere erst ganz spät in ihrem Leben entdecken. Und dann habe ich festgestellt, dass ich nicht mein ganzes Leben lang Cluster schreiben will. Oder wieder etwas Neues erfinden, damit man in der ersten Reihe der Avantgarde steht. Die Avantgarde ist gestorben, das hat 10 Jahre gedauert, ca. von 1950 - 60, danach war es vorbei. Diejenigen, die das nicht verstanden haben, machen weiter, aber das ist sehr epigonal.

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Avantgarde
Es gibt heute in der Generation der um 1950 - 60 Geborenen einige Komponisten, die das weiterentwickeln, was bei Xenakis, Stockhausen oder auch bei Ihnen angefangen hat.
Penderecki: Ob das wirklich etwas ganz Neues ist? Es gibt Dinge, bei denen man nicht weitergehen kann. Denken Sie an die Streichertechniken in "Threnos", das war damals direkt von elektronischer Musik inspiriert, das kann man nicht weitertreiben, dann wäre es schon keine Musik mehr.

(In der Restaurantküche stürzt ein Tellerstapel um.)
Penderecki: (lacht) Das war Avantgarde!

Sie haben mal gesagt, Avantgarde als "Erfindung immer neuer Klanggags" habe sich erledigt. Aber Moderne war nie bloß die Erfindung von Klanggags, sondern das Projekt, den Menschen und seine Musik neu und anders entwerfen zu wollen.
Penderecki: Das haben wir auch - in den 50er-Jahren. Ich glaube, eine Avantgarde entsteht einmal in hundert Jahren, man kann nicht ständig was Neues entdecken. Ich war jetzt gerade in Berlin auf dem Kirchentag und habe mein "Credo" aufgeführt. Das haben über 8000 Leute gehört, und sie haben das verstanden. Ist nicht das die Art, wie man schreiben sollte?

Sie haben das "Credo" mal als eines Ihrer wichtigsten Stücke bezeichnet.
Penderecki: Ja, es ist ein Art Summe meiner Erfahrungen mit der geistlichen Musik. Es hat eine musikalische Sprache, die es vor mir, glaube ich, so nicht gab, aber auch Elemente, die stark der Tradition verbunden sind ...

... die ersten Seiten nehmen sich aus wie stilechtes 17. Jahrhundert.
Penderecki: Na und, warum nicht? Wissen Sie, man kann viel streiten, aber der hat recht, der noch in 100 Jahren gespielt wird. Meine Musik wird schon seit 50 Jahren gespielt, wir werden sehen. Ich könnte leicht avantgardistische Stücke schreiben, ich habe die Techniken dafür, ich kann alles schreiben, aber ob das nötig ist?

Warum schreiben Sie Musik?
Penderecki: Weil das die einzige Möglichkeit für mich ist, mich mit anderen Menschen zu verständigen, das kann ich am besten.

Sie wollen sich nicht irgendwann in Ihr Arboretum zurückziehen?
Penderecki: Nein, ich brauche Musik, deshalb dirigiere ich auch so viel, reise umher und bringe meine Musik den Menschen dadurch näher.

Man fragt sich, warum jemand, der die Welt so finster sieht, wie in Ihrem Buch beschrieben, so viel arbeitet.
Penderecki: Ich sehe die Welt nicht immer so finster. Die Zeit um die Jahrtausendwende war eine schlimme Zeit, in der ich dachte, wir würden wirklich nicht überleben können, weil der Populismus dermaßen stark geworden war, und ich dachte er wird vielleicht noch wachsen. Vielleicht ja auch nicht, vielleicht entsteht ein Platz für alle ...

Bei den Mecklenburg-Vorpommern Festspielen machen Sie neben Ihrem eigenen auch Bruckners "Te Deum" - ein Meister, der Ihnen sehr liegt?
Penderecki: Bruckner ist ein Komponist, der mich sehr beeinflusst hat. Ich glaube man findet bei ihm keine Zweifel, obwohl er so viel geändert hat. Ich weiß, ich weiß, er hat sich vieles rausstreichen lassen, aber wenn seine Musik erklingt, glaubt man, dass seine Vorstellung von Welt und Gott ganz klar formuliert war - er war nicht so wie Mahler.

Sie schreiben heute noch viele religiöse Werke. Die Zeit, in der das ein Protest war, ist vorbei, es muss sich an Ihrer Motivation also etwas geändert haben?
Penderecki: Wenn man mit 65 ein "Credo" schreibt, heißt das doch wohl, das man glaubt, oder? Sonst würde man es nicht machen; der Text ist schließlich nicht besonders inspirierend. Ich habe den Text noch durch Zitate ergänzt, weil mir diese scholastischen Formulierungen so nicht reichten, ich aber auch nichts ändern mochte. Es ist einer der schwierigsten Texte für eine Vertonung. Manche Komponisten, Schubert zum Beispiel, haben nur Fragmente vertont. Aber ich dachte mir, gerade weil er so schwierig ist, vertone ich ihn als Ganzes und füge einige Ergänzungen hinzu.

Immerhin ein sakrosankter Text.
Penderecki: Ich bin kein orthodoxer Katholik. Meine Familie ist sehr gemischt: Meine eine Großmutter war Armenierin, mein Vater war griechisch-orthodox, ein Großvater war ein deutscher Protestant - er ist nie konvertiert, aber es gab in seiner Kleinstadt keine andere Kirche, also musste er immer zur katholischen Messe gehen -, nur meine andere Großmutter war katholisch. Das heißt, ich bin sehr tolerant erzogen worden.

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Symphonien
Der offiziellen Zählung nach gibt es neun Symphonien von Ihnen - allerdings haben Sie dabei einige übersprungen?
Penderecki: Ich betrachte alle meine Symphonien als ein Stück, eine als Fortsetzung der anderen. Das heißt, ich mache Skizzen, jetzt habe ich Skizzen zur sechsten und achten, und eigentlich wollte ich die sechste zuerst schreiben. Doch nun ist es anders gekommen, ich gehe sowieso nicht der Reihe nach vor. Die dritte habe ich z.B. nach der fünften geschrieben - ich hatte zwei Sätze fertig, dann habe ich die vierte und fünfte geschrieben, und bin dann zur dritten zurück. Ich mache jetzt die sechste, nein, halt, die achte, und die sechste wird dann eine großes Largo, eine Elegie für den sterbenden Wald.

Sie sehen Ihre neun Symphonien als Gesamtprojekt und es ist egal, an welchem Stück Sie zu einem bestimmten Zeitpunkt arbeiten?
Penderecki: Ja, für die neunte gibt es noch wenige Skizzen, aber an der sechsten und achten arbeite ich jetzt. Ich schreibe manchmal an ganz anderen Werken und komme dann auf die Symphonien zurück. Das hat sein Gutes, wenn man nach Jahren auf ein Stück wieder zurückkommt - bei der dritten Symphonie waren es sieben Jahre - sieht man es anders, man hat die richtig Distanz. Wenn man ein Stück nach ein paar Jahren noch akzeptiert, heißt das doch, es ist gut. Wenn nicht, arbeite ich es um, aber das ist sehr selten.

Ist es nicht schwer, sich in die alte Idee wieder hineinzufinden?
Penderecki: Meine Musik hat sich in den letzten 20 Jahren kaum geändert. Da war natürlich ein großer Wechsel nach dem ersten Violinkonzert (1976/77), das "romantisch" genannt worden ist. Ich weiß nicht, ich glaube, das war ich immer. Die Musik, die Struktur ist anders als bei den Clustern, aber ich war eigentlich immer romantisch. Seit dem zweiten Konzert für Violoncello und Orchester 1982 ist meine Musik im Prinzip unverändert. Ich kann also sehr wohl nach fünf Jahren an einem einmal begonnenen Satz weiterarbeiten.

Sie haben in Ihrer Musik der letzten 20 Jahre ein relativ festes Repertoire musiksprachliche Formeln geschaffen?
Penderecki: Ja, ich betrachte das schon als Sprache - als meine Sprache. Meine Musik unterscheidet sich deutlich von der anderer Komponisten. Ich brauche heute keine großen Sprünge mehr zu machen. Das heißt aber nicht, dass ich nicht weiter suche. Zum Beispiel das Tubafon in den "Seven Gates", das ist doch ein Instrument, das etwas Neues bringt, auch klanglich. Oder die Basstrompete, die Vertritt die Stimme Gottes; es gibt in den "Seven Gates" eine Stelle, wo Gott spricht, dort schreibe ich Musik, die beeinflusst ist von der Musik der Samariter. Ganz alte Musik, die wenig mit der jüdischen Tradition verbindet, sondern babylonische Wurzeln hat. Da unser Gottesbild im heutigen Irak seinen Ursprung hat, dachte ich in einem gewissen Sinne so näher dran zu sein.

Eigentlich wollten Sie sich doch ganz auf Kammermusik zurückziehen?
Penderecki: Ab und zu mache ich das. Zum Beispiel 1999, da dachte ich: Fin de siecle, ich will mein Millennium nicht mit der großen Trommel und Orchester beenden, sondern mit leiser Stimme. Da habe ich das "Sextett" und die "Sonate für Geige und Klavier" geschrieben. Das war wie ein Purgatorium für mich und auch ein echter Luxus; ein Jahr lang habe ich mich in meinen imaginären Garten zurückgezogen.

Woran arbeiten Sie im Moment?
Penderecki: Für die Eröffnung der rekonstruierten Frauenkirche in Dresden schreibe ich wieder an einer Passion. Ich habe Texte von denen niemand glauben wird, dass man sie für eine Passion benützen kann, z.B. aus Bulgakows "Der Meister und Margarita" das Gespräch zwischen Christus und Pilatus. Ich finde das einen genialen Text, der eine unwahrscheinliche Atmosphäre hat. Aus dem Buch Daniel werde ich etwas verwenden - das hat natürlich nichts mit Stockhausens "Gesang der Jünglinge" zu tun. Ich interessiere mich oft mehr für Texte als für Musik.

Ist das nicht Koketterie, Ihre Musik zu Gunsten von Büchern oder Bäumen so hintanzustellen?
Penderecki: Ach wissen Sie, ich würde verrückt, wenn ich nur mit Musik zu tun hätte. Ich brauche ein Asyl, wo ich mich frei fühle. Zum Beispiel gestalte ich meinen Garten, er hat eine Form. Es ist genau wie wenn man eine Partitur schreibt: Man arbeitet am Tisch, aber vollständig wird es erst, wenn es aufgeführt wird - immerhin kriegt man das innerhalb relativ kurzer Zeit zu Gehör. Bei meinem Garten dauert das Jahrzehnte. Das heißt, man macht es nicht für sich. Ich habe jetzt eine Eichenallee gepflanzt, von der ich genau weiß, dass ich sie ausgewachsen nie sehen werde, das ist vielleicht etwas für meine Enkelin.

Für wann ist die Uraufführung der Passion geplant?
Penderecki: Für November 2005.

Sie sind bei Auftraggebern gefürchtet, weil Sie immer erst in letzter Minute fertig werden ...
Penderecki: Ich liefere in letzter Minute, aber ich schreibe meist über Jahre. Ich trenne mich ungern von meinen Partituren, deswegen halte ich sie sehr lange zurück. In dem Moment, wo man sich trennt, übernimmt jemand anders die Partitur und es ist schon nicht mehr ganz mein Werk.

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