Ilja Stephan Musikpublizist

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Ge-Suk Yeo - Bildhafte Klänge, Gesungene Zeichen
Die Sängerin, Komponistin und Grafikerin Ge-Suk Yeo
in: Positionen Nr. 71, Mai 2007, S. 47 - 48.

Die Schildkröte (Geobuk) aus dem koreanischen Volksmärchen "Su-Gung Ga" ist ein beharrliches, treues, aber vor eine unerfüllbare Aufgabe gestelltes Wesen. Eine kränkelnde Wassergottheit betraut ausgerechnet sie damit, vom schnellsten und listigsten der Landtiere die für eine Medizin nötige Hasenleber einzufordern. In der traditionellen koreanischen Volksoper "p'ansori" wird dieses burleske Märchen von nur einer Sängerin zum Leben erweckt, die sämtliche Figuren und die wechselnden Situationen durch Tonfall und Tempo charakterisiert. Man erahnt die Geschichte, indem man sie in den Modulationen des Stimmklanges erlebt, selbst wenn einem die Bedeutung der Worte fremd bleibt. In der elektroakustischen Version des Märchens, die die Sopranistin und Komponistin Ge-Suk Yeo unter dem Titel "Dalbukki" auf CD gebannt hat, ist es der beständig wiederholte Klang eines tiefen, gepressten Atemstoßes, in dem das Wesen der tragisch-komischen Amphibie zum Ausdruck kommt. Diesen Laut taucht Yeo in eine verschwommene Unterwasserwelt tropfender und gurgelnder Klängen aus dem Sampler. Im direkten Kontrast dazu steht die Welt des gewandten Hasen, dessen Wesen sich in einem onomatopoetischen Silbenstaccato auf dem koreanische Wort "tokki" (Hase) manifestiert. Zwar lässt Yeo sich 30 Minuten Zeit, um das Märchen der ungleichen Wettläufer zu entfalten, doch die Quintessenz der Geschichte stellt sie mit wenigen Lauten vor unser inneres Auge.

Klänge, die eine Geschichte erzählen, und Bilder, die zugleich eine Klangbeschreibung sind, liegen Ge-Suk Yeos Hörkunst zugrunde. Die Basis Ihrer Kompositionen und ihrer musikalischen Vorstellungswelt bildet eine Mischung aus Storyboard und grafischer Partitur. In dieser Verschränkung von Optischem und Akustischem bricht sich wohl auch eine Grunderfahrung der ostasiatischen Kultur Bahn, in der man einen feinen Sinn dafür kultiviert hat, konkrete Erfahrungen und Gefühle mit Klang- und Schriftemblemen zu evozieren, statt das Resultat eines Abstraktionsvorganges durch Allgemeinbegriffe zu repräsentieren. Das chinesische Ideogramm für "Musik" etwa zeigt in stilisierter Form einen Menschen, der mit erhobenen Armen zwei Schellenbündel schüttelt. Es bewahrt im Bild somit die Erinnerung an den rituellen Ursprung der Musik. Zugleich verleiht es dem heraufbeschworenen Vorstellungskomplex durch die Vieldeutigkeit seiner Verwendung eine emotionale Färbung, denn mit demselben Zeichen kann auch "Freude" und alles, was den Menschen positiv bewegt, geschrieben werden. Als mit dem Pinsel gemalte Kalligrafie hat jede Realisation eines Schriftzeichens zudem ihre individuelle Qualität. Wer die Zeichen liest, erfreut sich an der feinen Nuancen der Linien- und Pinselführung und ist zugleich einer Vielzahl miteinander verwobener Vorstellungen und Gefühle gegenwärtig.

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Der Weg zu ihrer eigenen magisch-poetischen Klang- und Bilderwelt führte Ge-Suk Yeo durch zwei Kulturkreise und über etliche Zwischenstationen. Ihr Großvater war Lehrer für Kalligrafie und als solcher noch fest verwurzelt in der traditionellen Kultur. Der Vater dagegen habe als Vertreter eines modernen, westlich orientierten Korea von solchen Dingen wenig wissen wollen. Sie erinnere sich aus früher Kindheit in Seoul noch an die Klänge eines schamanistischen Rituals in der Nachbarschaft, aber auch an das drastische Verbot der Mutter: "Hör da nicht hin, sonst kommt dich ein Teufel holen." Zu einer Zeit, in der man sich in Korea radikal am westlichen Lebensstil orientierte, wurde klassische europäische Musik zu einem Statussymbol erster Ordnung. Der Weg an eine Universität und zu sozialem Prestige führte für Yeo so über ein klassisches Gesangsstudium an der Seoul National University. Ein Engagement an der Nationalopera Seoul verschaffte ihr danach zwar ein gutes Auskommen; der politische Erfahrungshorizont der 1980er-Jahre aber war geprägt durch das Gefühl permanenter Bedrohung und die absurden Reglementierungen einer Militärdiktatur, die mit polizeistaatlichen Mitteln ungehemmtes Wirtschaftswachstum und die ideologische Allianz mit der westlichen Welt forcierte. So ist die südkoreanische Erstaufführung von "Eugen Onegin" Yeo noch in bleibender Erinnerung - nicht zuletzt deshalb, weil Tschaikowsky als russischer Komponist von offizieller Seite zuvor lange verboten worden sei. Wer in dieser Zeit tatsächlich Widerstand gegen den verordneten Turbokapitalismus und die einseitige Westorientierung artikulieren wollte, griff dagegen eher auf Formen der traditionellen Volkskultur zurück.

Die Bilder vom Fall der Berliner Mauer hätten sie nach Deutschland gelockt, berichtet Yeo heute. An der Berliner Hochschule der Künste erwarb sie ihr Gesangsdiplom und studierte anschließend Belcanto bei Celestina Casapietra. Ein Unbehagen an dem Opernbetrieb, in dem man sich nur über festgelegte Rollen und Stimmfächer definiert, aber blieb. So wurde die Begegnung mit Musikern der Improvisationsszene beim Hamburger Real Time Music Meeting für sie zu einer echten Offenbarung. In dem Schlagzeuger Matthias Kaul fand sie einen Kollegen, der bereit war, sich ohne Vorbehalte auf eine neue Ausdrucksformen suchende koreanische Opernsängerin einzulassen. Und sie begegnete erstmals Musikern, die einen geschwungenen Pinselstrich als Notationsform für einen klanglichen Gedanken akzeptieren konnten. "Ich hatte mir Musik eigentlich immer schon über Bilder gemerkt. Meinen Lehrer habe ich früher zur Verzweiflung gebracht, dass ich mir zwar eine lange Strauss-Partie merken konnte, aber nicht ein einfaches Schubert-Lied, wenn ich dafür kein Bild fand. Hier habe ich Leuten meine Grafiken gezeigt, und die haben das verstanden!" 1)

Seit Beginn des Millenniums realisiert Ge-Suk Yeo nun ihre eigene Intuition von Musik auf verschiedenen Wegen. In Hamburg, wo sie heute lebt, veranstaltet Yeo in unregelmäßigen Abständen Improvisationskonzerte und Performances mit Gastkünstlern wie dem Laotop-Musiker Gregory Büttner, dem Cellisten Wittwulf Y Malik, dem DJ Byung-Jun Kwon oder der Projektionskünstlerin Katrin Bethge. Auf dem eigenen Label ART.cappuccino.net hat sie darüber hinaus die Ergebnisse einiger dieser Kooperationen auf CD herausgebracht. So realisierte sie mit Wittwulf Y Malik die CD "White Room", auf der mit den Mitteln von Stimme, Violoncello und Studiotechnik fünf klangliche Milieus geschaffen werden - unterschiedlich große, hallende oder gedämpfte akustische Räume, die das Duo der Reihe nach durchmisst. In ihrem "Solo für Stimme und Elektroakustik" "Five Sequences" lotet sie dagegen die klanglichen Qualitäten der fünf Elemente Wasser, Feuer, Erde, Metall und Holz aus. Das uralte Prinzip der ostasiatischen Musik, Klänge nach dem Material der Instrumente zu klassifizieren, wird hier aus dem Geist der elektronischen Klangsynthese wiedergeboren und von Yeo vor einem entsprechenden Vorstellungshorizont interpretiert: "Jede der fünf Sequenzen ist einer Kraft gewidmet. Am Schluss jeder Sequenz verliert diese Kraft ihren Einfluss, die Kraft der nächsten Sequenz übernimmt. Alles ist miteinander vernetzt. Im Zentrum des Interesses steht, wie die Dinge miteinander verbunden sind. Wiederkehr ist nicht Rückkehr oder Vergangenheit, sondern Zukunft." 2)

Für Projekte wie "The Talking Wall" ist Yeo inzwischen dazu übergegangen, animierte Versionen ihrer Kalligrafien zu erstellen, die auf eine Wand projiziert eine optische Folie für ihre Live-Performance bilden. Ihren Sampler bezeichnet sie ganz pragmatisch als "Orchester". Doch bleibt Yeo gerade mit diesem Einsatz von Video- und Audiotechnik im Kern einer alten Leidenschaft treu. Denn neben dem Computer, an dem sie Klänge bearbeitet oder Animationen ihrer Tuschzeichnungen erstellt, liegt nach wie vor eine Partitur von Bellinis "Norma". Und wo sie als Sängerin, Komponistin und Grafikerin ihren gesamten ästhetischen Apparat mobilisiert - wie in der jüngsten Performance für Stimme, Violoncello, Elektronik und Video "Gang Gang" nach einem alten koreanischen Rundtanz - dort spricht sie von "einer Art minimalistischen, surrealistischen Oper".

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1) Aus einem Gespräch mit dem Verfasser vom 5.4.2007.

2) Zitiert nach dem Einführungstext unter http://www.art.cappuccinonet.com/lang/de/projects.html, Stand April 2007.