Ilja Stephan Musikpublizist

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Tan Dun - "You suddenly realize that life is boundless"

What is the concept behind the combination of video, soloist and orchestra in The Map. As far as I can see the orchestra answers to the indigenous music recorded on video? mehr...

Die Oper unserer Tage
Tan Duns „Martial Arts Trilogy“
in: Programmheft Schleswig-Holstein Musik Festival, August 2012.

Am 27. April 2012 hielt der Komponist Tan Dun während eines Filmfestivals in Beijing eine denkwürdige Rede. Er versprach darin jedem Regisseur, der sich im Rahmen eines Martial-Arts-Filmes des Themas „Auferstehung“ annehmen würde, für diesen Film den Soundtrack zu komponieren. Und zwar gratis! Spätentens seit Tan im Jahr 2000 für seine Musik zu „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ den Oscar gewann, kann er Spitzenhonorare verlangen. Wenn ein Top-Verdiener der Komponistenzunft seine Musik verschenken will, muss das also gute Gründe haben. Ehrgeiz und die höhere Mathematik des Musiktheaters sind solche Gründe. Für Tan Dun ist der Film erklärtermaßen die Oper unserer Tage: „Für mich ist die traditionelle Opern eine alte Form des Kinos, bzw. das Kino die Oper der Zukunft“, so hat Tan wiederholt verlauten lassen. Das ambitionierteste Werk der alten Opernkunst ist wohl Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“. An diesem Maßstab will auch Tan sich messen lassen: „Nachdem ich ,Crouching Tiger‘ komponiert hatte, entschied ich mich, eine Martial-Arts Trilogie zu machen, deren Teile verbunden sind, wie bei Wagners Ring-Zyklus“, so erläuterte er seine Grundidee. Doch um mit dem Bayreuther Meister gleichzuziehen, braucht Tan nun ganz dringend die Vorlage für einen vierten Teil.

Menschen, die in der westlichen Operntradition mehr zuhause sind als im chinesischen Kino, werden müde lächeln. Martial Arts? Das sind doch diese Hau-drauf-Filme mit Bruce Lee oder Jackie Chan. Doch das Reich der Mitte ist weitaus größer und vielfältiger als es vom Grünen Hügel aus gesehen erscheint. Kung-Fu-Filme mit Chan und Lee kommen aus Hongkong; das war lange genug eine Exklave, um seine eigene Kinotradition auszubilden. Das Genre, an das Tan denkt, bezeichnet man in China als „Wǔxiá“. Die ältesten solcher Geschichten über heroische Einzelkämpfer sollen aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stammen. In der Ming-Dynastie (1368 – 1644) entstanden neben den berühmten Vasen auch mehrere Klassiker der chinesischen Literatur, die zu den Vorläufern der Romane über „wu“ (Kampfkunst) und „xiá“ (fahrende Ritter) gehören: „Die Reise nach dem Westen“ oder „Die Rebellen vom Liang-Schan-Moor“ kennt man heute selbst bei uns. Für chinesische Leser gehören solche Geschichten über idealistische Ritter, deren alle Grenzen des Realen sprengende Kampfkunst und das philosophische Ethos, das sie zu diesen Wundertaten befähigt, seit Jahrhunderten zur Allgemeinbildung. Die Handlung dieser Romane ist meist in einer frühen Epoche des chinesischen Reiches angesiedelt – also keinesfalls in irgendeinem Fantasy-Reich. Die soziale Welt, in der diese Helden sich bewegen, heißt: „Giang Hu“. Es ist eine Halbwelt der Diebe, Künstler und Kämpfer, die außerhalb jeder gesetzlichen Ordnung leben. Im 19. Jahrhundert hielten die Figuren aus den „Wǔxiá“-Geschichten Einzug ins chinesische Musiktheater. Und als Anfang des 20. Jahrhunderts der Film aufkam, fand das Genre wieder ein neues Medium. Die Darsteller der Peking-Oper waren noch auf ihre atemberaubende Körperbeherrschung angewiesen, um die alle Gesetze der Physik außer Kraft setzende Kampfkunst der „xiá“ auf die Bühne zu bringen. Im Film schienen die Helden nun tatsächlich zu schweben oder auf einer Schwertspitze zu balancieren. Bis heute kommen viele Choreografen und Darsteller der „Wǔxiá“-Filme von der so genannten Peking-Oper, die weit mehr von einem Ballett hat, als ein Westler mit dem Wort „Oper“ verbindet. Und auch den subtilen Einsatz von Gesten oder die Symbolik der Farben schauten sich die Regisseure der „Wǔxiá“-Filme beim Musiktheater ab. Tan Duns These, dass das Kino die Fortsetzung der Oper mit anderen Mitteln sei, ist im Falle von „Wǔxiá“-Filmen also wohl begründet.

Doch kann man drei unabhängig voneinander entstandene Ritterfilme mit Kampfkunsteinlagen deshalb mit Wagners Welttheater vergleichen? Schaut man sich die (vorerst) drei Werke des Zyklus näher an, wird deutlich, warum Tan sie als Einheit, ja sogar als „spirituelle Reise“ auffassen konnte: Sie zeigen verschiedene, einander ergänzende Facetten des alten und des gegenwärtigen China. Den ersten Teil, „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ von Ang Lee würden viele Puristen als echten „Wǔxiá“-Film gar nicht gelten lassen. Ein Kritiker sprach gar von „klug verpacktem Chop Suey“. Tatsache ist, dass der Regisseur zuvor nur für Stippvisiten in Festland-China gewesen war. Lee wuchs im amerikanisch geprägten Taiwan auf und ging 1978 in die USA. Sein China-Bild war geprägt von den „Wǔxiá“-Romanen und Filmen, die er als Kind gelesen und gesehen hatte. So ist „Crouching Tiger“ (2000) eher der Traum eines in Hollywood geschulten Exil-Chinesen vom alten Reich der Mitte. Wunderbare Landschaftsaufnahmen zeigen China in all seiner Schönheit: von der Wüste Gobi bis zum Bambuswald von Anji im Osten. – Den Zweikampf in Bambuswipfeln werden „Wǔxiá“-Kenner sofort als Zitat aus einem Klassiker des Genres, „A Touch of Zen“, identifizieren. Wenig stilecht sind dagegen die Dialoge: „Ich liebe Dich“, sagt der sterbende Held Li Mu Bai zu seiner Geliebten; dabei wird in echten „Wǔxiá“-Filmen Süßholz nur mit dem Schwert geraspelt. Zudem bringt der Darsteller seine Liebeserklärung in holprigem Mandarin vor, denn der Cast dieses international produzierten Films besteht u.a. aus englischsprachigen Kinos-Stars aus Hongkong, Taiwan oder Malaysia. Yo-Yo Ma, der Cellist, dem Tan Dun den Cello-Part in seiner „Crouching Tiger“-Musik auf den Leib komponierte, wurde in Paris geboren und machte in den USA Karriere. So ist Lees Film vor allem ein ironisch-nostalgisches Werk aus der Perspektive einer über die Welt verstreuten Diaspora.

Demonstrativ staatstragend ist der zweite Teil der Trilogie „Hero“ (2002). Dessen Regisseur Zhang Yimou wurde der ganzen Welt spätestens 2008 bekannt, als er die Feiern bei den Olympischen Spielen in Beijing inszenieren durfte. Wie Tan, der u.a. die Musik zur Wiedervereinigung Hongkongs mit der Volksrepublik schrieb, zählt auch Zhang zu jenen Top-Level-Artists, denen die weltweite Außendarstellung Chinas anvertraut ist. Als Sequel zu ihrem Film „Hero“ brachten Zhang und Tan 2006 die Oper „The First Emperor“ mit Placido Domingo an der New Yorker Met heraus. Protagonist von Oper und Film ist der erste Kaiser, Qin – die Symbolfigur chinesischer Kultur und Gesamtstaatlichkeit schlechthin. Qin vereinigte das Land, vereinheitlichte die Schrift, ließ die große Mauer bauen und die berühmten Terrakotta-Soldaten bewachen sein Grab. Der Film „Hero“ handelt von vier Attentätern, die beschließen, den Tyrannen zu ermorden. Dessen imperialer, mit grausamer Härte durchgesetzter Wahlspruch lautet: „Alles unter dem Himmel“. Erst die späte Einsicht, wie wichtig Kaiser Qins Herrschaft für China ist, bringt den letzten der Attentäter von seinem Plan ab. Er geht stattdessen selbst in den Tod. – In Taiwan und bei Exil-Chinesen stieß diese als Historienspektakel kostümierte Parabel über eine starke Hand an der Spitze eines gesamtchinesischen Imperiums zum Teil auf heftige Kritik.

Der Königsmord, der in „Hero“ ausfällt, wird in „The Banquet“ (2006) vielfach nachgeholt. Denn dieser Film basiert nicht auf einem klassischen „Wǔxiá“-Roman, sondern auf Shakespeares mörderischem „Hamlet“. Allerdings verlegte Regisseur Feng Xiaogang die Geschichte von Dänemark ins China am Ende der Tang-Zeit (618 – 907). Die „Tang-Blüte“ gilt allgemein als klassische Epoche der chinesischen Kultur. Gegen Ende der Tang-Zeit aber zerfiel das Reich unter der Herrschaft von fünf Dynastien in zehn untereinander zerstrittene Einzelstaaten; so ist die Spätphase dieser Epoche auch ein Synonym für politische Auflösungserscheinungen. Es ist sprichwörtlich etwas faul in diesem Staate. Fengs Werk ist denn auch kein typischer „Wǔxiá“-Film; die Zweikämpfe sind so stark stilisiert, dass sie tatsächlich mehr an Ballett gemahnen. Statt eines Ritterfilmes hat der Regisseur vielmehr eine Parabel über die Rolle der Kunst, über Masken, Täuschung und Verstellung gedreht. Letztlich aber bringen diese Finten nur Verderben; am Ende sind – wie bei Shakespeare üblich – alle Protagonisten vergiftet, erschlagen oder erdolcht. Die alles zermalmende „Götterdämmerung“ kommt in Tans Martial-Arts-Zyklus also an dritter Stelle; als Schlusspunkt der Tetralogie soll nun bald möglichst eine „Auferstehung“ folgen.

Wer Tans Duns Projekt eines Martial-Arts-Zyklus in progress nicht nur als Ansammlung von Kostümfilmen verstehen will, muss eine kuriose Vielfalt von Einflüssen berücksichtigen: Da spielen die Konventionen des Hollywood- und des Hongkong-Star-Kinos ebenso eine Rolle wie altchinesische Ritterromane, Peking-Oper, Shakespeare-Dramen und Wagners Ring-Zyklus. Es gibt die innerchinesische Perspektive in diesen Filmen ebenso wie den Blick der chinesischen Diaspora auf die alte Heimat. Und last but not least wurden alle Filme für einen internationalen Markt produziert; sie sollten auch solche Cineasten rund um den Globus an die Kinokassen locken, die bei China zuerst an Glückskekse und Ente süß-sauer denken. In der Musik des in China geborenen und aufgewachsenen, in New York lebenden Komponisten-Stars Tan Dun spiegelt sich diese Vielfalt: Zuallererst versteht auch er die Regeln des Star-Kults. Jedes der Konzerte, die er aus seinen Filmmusiken auskoppelte, ist einem Prominenten des Klassik-Business gewidmet: Das Cellokonzert komponierte er für Yo-Yo Ma, das Violinkonzert für Itzhak Perlman und das Klavierkonzert für Lang Lang. Mit derselben Souveränität bedient sich Tan im großen, globalen Gemischtwarenladen der Stile und Traditionen. So gibt es in den Filmen die altehrwürdige chinesische Zither Guqiun ebenso zu hören wie barocke Stilkopien, romantische Klavierklänge oder martialische Herrenchöre für die in Reihʼ und Glied aufgestellten Kriegermassen in „Hero“. Für die Originalsoundtracks holte Tan sich neben der japanischen Trommlertruppe Kodo auch das Ancient Rao Ensemble des Changsha Museums aus seiner Heimatprovinz Hunan und einen Perkussionisten von der New Yorker Avantgarde-Truppe „Bang on a Can“ ins Studio. „Die Oper wird nicht länger eine westliche Gattung sein, genauso wie sie nicht länger eine italienische Gattung ist“, so verkündete der Komponist 2006 anlässlich der Premiere von „The First Emperor“. Denkt man dies zusammen mit Tans Anspruch, dass der Film die Oper der Zukunft sei, so wird die Kampfansage an den westlich geprägten Bildungsbürger überdeutlich. Der Grüne Hügel in Bayreuth ist längst nicht mehr hoch genug, um von ihm aus auf die weite Welt der Kunst und der Medien im 21. Jahrhundert herabzusehen.