Ilja Stephan Musikpublizist

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Isang Yun - Musik als Sinnbild

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Isang Yun - Bibliografie

Hauptanliegen dieser Zusammenstellung ist es, alle bekannten Selbstzeugnisse Yuns zu verzeichnen. mehr...

Kontinuität als Schaffensprinzip
Über zyklische Zusammenhänge im Werk von Isang Yun 1)

Ohne Kontur wäre Musik chaotisch. Wer Kontur finden will,
 kann sie in zeitlichen Abläufen finden, aber im Moment scheint
 die Kontur immer verwischt zu sein. 2)
 Isang Yun


Betrachtet man Isang Yuns Aussage "Ohne Kontur wäre Musik chaotisch", so fällt zunächst auf, dass ein Begriff nicht fällt, den man als in den Kategorien der europäischen Kunstmusik geschulter und denkender Leser vor allem erwartet hätte. Yun formuliert das intellegible Prinzip seiner Musik anders, als es seine Kollegen von Bach bis Boulez vermutlich getan hätten. Es heißt gerade nicht: "Ohne Struktur wäre Musik chaotisch." - Struktur wäre hier etwas, das den Tonsatz in jedem Moment durchdringen und in allen seinen technischen Details begründen würde. Am dichtesten formuliert ist dies wohl im Ideal der Zweiten Wiener Schule, Musik zu schreiben, in der es "keine freie Note" gibt, weil alles durch thematische oder reihentechnische Verfahren ,gerechtfertigt' ist. Eben diesem Ideal huldigt Yun nicht. Mit der analytischen Lupe gelesen, gibt es bei ihm fast nur freie Noten; analytisch verifizierbare Zusammenhänge und kompositorische Strategien dagegen fänden sich, folgt man Yun, eher in "zeitlichen Abläufen", also à la longe betrachtet, als das Produkt von Prozessen.
Ziel des vorliegenden Beitrages soll es sein, die Ausprägungen einer solchen übergeordneten, globalen Logik durch das Yunsche Œuvre als Ganzes zu verfolgen und seine konkrete kompositorische Realisierung vor allem am Beispiel der Streichquartette IV bis VI näher zu beleuchten.

Memory
Im Jahr 1974 schuf Isang Yun ein Stück für drei Stimmen und Schlaginstrumente, dem er den für sein gesamtes Schaffen bedeutsamen Titel "Memory" gab. Die Wichtigkeit der Botschaft von "Memory" kontrastiert allerdings in kurioser Weise mit seiner esoterischen Hermetik. Textvorlage ist ein chinesisches Gedicht der T'ang-Zeit, dessen Inhalt sich, wie der Koreanist Dieter Eikemeier feststellt, nur demjenigen erschließt, der in der alten Schriftsprache, der Literatur und der Geschichte Chinas bestens bewandert ist. 3) Zudem vertont Yun das Gedicht ohne Rücksicht auf Textverständlichkeit und in koreanischer Lautung, so dass selbst für einen Spezialisten ein Hörverständnis völlig unmöglich ist. Bei dem Text handelt es sich um das Gedicht "Wieder in Hsiang-yang angekommen und den dahingeschiedenen Gefährten Wei Shou-p'eng beweinen". Inhalt des Gedichtes ist - nach Eikemeiers Rekonstruktion - die Trauer des Dichters Tu Mu (803 - 852) am Grab seines Freundes Wei Shou-p'eng. Gegenstand der Klage, die sich im Gedicht im Klang einer Mundorgel und einer Flöte ausdrückt, ist Wei Shou-p'engs Schicksal, ohne Nachkommen geblieben zu sein, also ohne jemanden, der für ihn den förmlichen Trauerdienst verrichten könnte. Wei Shou-p'engs Schicksal spiegelt der Dichter dabei in der historischen Figur des Teng Yu (gest. 326) - im Gedicht erscheint er unter seinem Mannesnamen Po-tao -, der seinen einzigen Sohn auf der Flucht vor seinen politischen Feinden verloren hatte. An beider Gräber sind keine Spuren von Schritten zu finden, es gibt niemanden, der ihrer gedenkt. Die Männer ohne direkte Nachkommen sind vergessen, die Entwicklung ist abgerissen.

Sicher hat auch Isang Yun z.B. während seiner Entführung die eigene Vergänglichkeit und Verletzbarkeit tief und schmerzhaft erfahren müssen. Doch er hat die Haftzeit überlebt, er hat Nachkommen hinterlassen; die Wahl des Textes mit einer autobiografischen Identifikation erklären zu wollen, wäre wenig plausibel. - Allerdings hat Yun darauf hingewiesen, dass er als ältester Sohn nach dem Tode seines Vaters der Einzige war, der die Lage der Ahnengräber seiner Familie kannte. Die ersten Jahre nach seiner Freilassung hatte er sich offenbar noch der Illusion hingegeben, nach Korea zurückkehren zu können. Erst die Entführung Kim Dae Jungs im August 1973 überzeugte Yun davon, dass dem Regime nicht zu trauen sei und seine Emigration endgültig sein würde. Somit bestand auch keine Möglichkeit mehr, dass jemand den Trauerdienst für seine Ahnen würde verrichten können. 4) Neben diesem sehr persönlichen Aspekt, den Yun wohl hinter der faktischen Unverständlichkeit des Textes von "Memory" verbirgt, dreht das Stück sich aber vor allem um die zentrale Kategorie seines Denkens: Es geht um das Bewahren eines nahtlosen (Erinnerungs-)Zusammenhanges. Die ultimative Katastrophe und der Anlass zu tiefster Trauer ist in Yuns Denken und Fühlen stets der Bruch der Kontinuität, hier also das Vergessen. Dem stellt er unter dem Motto "Erinnerung" nicht nur dieses eine Stück, sondern sein gesamtes Werk entgegen. Yuns zentrales Anliegen als Komponist ist, die Entwicklung niemals abreißen zu lassen.

Werkchronologie
Zu fragen wäre also, wie diese Kontinuität sich in Yuns Schaffen verwirklicht. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, sich zuerst einen Überblick über die Vita Yuns und die Chronologie seiner Werke zu verschaffen. Die 78 Jahre von Yuns Leben lassen sich in zwei etwa gleich lange Hälften unterteilen: seine Zeit in Korea von 1917 bis 1955 und sein Leben in Europa von 1956 bis 1995. Yun selbst hat diese Einteilung betont, indem er für sein Werkverzeichnis nur jene Stücke anerkannte, die in Europa entstanden sind (ab 1958); sein Schaffen beginnt für uns also erst mit seinem 41. Lebensjahr.

Auch die knapp vier Jahrzehnte seiner eigentlichen kompositorischen Karriere lassen sich in mehrere Abschnitte unterteilen. Die Einteilung folgt dabei tiefen biografischen Einschnitten (Entführung) bzw. markanten von Yun selbst herausgehobenen Punkten in der Entwicklung seines Œuvres (Symphonien). Die erste Periode wird man von 1958 bis 1969, dem Ende seiner Haft, ansetzen können. In diesem Zeitraum hat Yun insgesamt 22 Werke komponiert. Die zweite Periode von 1970 bis 1981 steht im Zeichen einer stilistischen Neuorientierung und der Vorbereitung des Symphonienprojekts. In diesem Zeitraum hat Yun 35 Werke komponiert. Die letzte Periode von 1982 bis 1994 wird von dem großen Symphonienprojekt eingeleitet; was die Anzahl der Werke angeht, wird sie aber von der Kammermusik dominiert. Yun hat in diesen Jahren 60 Werke geschaffen. Das heiß konkret, mehr als die Hälfte des Yunschen Œuvres (insgesamt 117 Opera) entfällt auf die letzten 14 Jahre seines Lebens. Von seinen insgesamt 66 Kammermusikwerken sind sogar fast zwei Drittel, nämlich 41 Werke, erst in dieser letzten Schaffensperiode entstanden.

Als Eigenheit von Yuns Entwicklung ist also festzustellen, dass sein Œuvre überwiegend ein "Spätwerk" ist. Es ist das Werk eines Mannes, der auf den größten Teil seines Lebens und seiner Entwicklung bereits zurückschaut - und diese überblickt und in ihrer inneren Logik erkannt haben mag, wie es einem Jüngeren nicht möglich gewesen wäre. Es werden sich für diese eigentümliche Konzentration seiner kompositorischen Aktivität in den letzten 14 Jahren seines Lebens aber auch ganz pragmatische Gründe finden lassen: So war Yun ab 1985 seiner Verpflichtungen als Hochschullehrer ledig; und auch die Hauptzeit seines aktiven politischen Engagements scheint in die 1970er- und frühen 1980er-Jahre zu fallen. Er hatte also erst in seiner letzten Lebensphase die Zeit, sich überwiegend dem Komponieren zu widmen. Darüber hinaus werden auch wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle gespielt haben, denn erstens können Yuns Versorgungsansprüche aus seiner Hochschultätigkeit (ordentlicher Professor von 1977 - 1985) nur gering gewesen sein, und zweitens hatte er sich erst in dieser Zeit die Besitzrechte an seinen Manuskripten gesichert, die zuvor noch beim Verlag lagen. 5) Es ging ihm also wohl auch darum, seiner Familie einen versorgungsrelevanten Nachlass vermachen zu können.

Zyklen und Zahlen
Zu den Asien-Klischees, die man in Europa vielfach noch pflegt, zählt, das Rationale dem europäischen Kulturkreis zuzurechen, während der Asiate an sich mehr von der Intuition geleitet sei. Dies tut sicher beiden Seiten unrecht, verkennt aber vor allem die intellektuelle Feinheit und umfassende Rationalität, die sich auch im Schaffen ostasiatischer Komponisten wie Isang Yun oder Toru Takemitsu ausprägt. Ein zentrale Rolle spielen dabei Zahlen. Doch anders als europäische Komponisten, nutzen sowohl Yun als auch Takemitsu Zahlen und Proportionen nicht um Komplexität zu konstruieren, wie etwa serielle Komponisten es getan hätten, vielmehr dienen Zahlen hier als Mittel, einer schon vorhandenen überbordenden und verwirrenden Vielfalt ein Minimum an Kontur zu verleihen. So schreibt Takemitsu in seinem Essay "Dream and Number": "Through the absolute simplicity of numbers I want to clarify the complexities of the dream." 6) Wird Komplexität im einen Fall vermessen, so wird sie im anderen Fall umrissen, Rationalität aber waltet in beidem.

Die Herausbildung von die Grenzen des einzelnen Stückes übergreifenden Zusammenhängen etwa zählt zu den besonderen Eigenheiten des Yunschen Werks. Es besteht die Tendenz, zeitlich benachbarte Stücke einer Gattung als Zusammenhang aufzufassen. Das früheste (und noch am wenigsten deutlich ausgeprägte) Beispiel hierfür dürften die vier Opern sein, die in den Jahren 1967 bis 1971 entstanden sind. (Weitere Opernpläne bestanden zwar, wurden aber nicht realisiert.) Die vier Opern hängen durch ihre zeitliche Nähe, ihre Gattung, aber auch durch ihre Sujets zusammen. Sie alle zeigen eine Welt, in der die Grenzen von Traum und Wach-Sein, von Menschen- und von Geisterreich nicht klar gezogen sind, sondern diese verschiedenen Sphären nahtlos ineinander übergehen.

Den nächsten wichtigen Werkkomplex nach den Opern bildet Yuns Kantaten-Schaffen. Das Projekt wird 1975 eröffnet mit einem Stück, das den demonstrativen Titel "An der Schwelle" trägt - das meint die Schwelle von Leben und Tod ebenso wie den Auftakt zum folgenden Großprojekt. Die Logik, der Yun in den Chor-Kantaten folgt, besteht in einer systematischen Verschränkung ostasiatischer und europäischer Textvorlagen: "An der Schwelle" (1975) verbindet noch Gedichte von Albrecht Haushofer 7) mit Bibeltexten; "Der weise Mann" (1977) verbindet Bibeltexte mit Ostasiatischem (Lao tse); "O Licht" (1980) verbindet Ostasiatisches (ein buddhistisches Gebet) mit Gedichten von Nelly Sachs, und "Der Herr ist mein Hirte" (1981) verbindet Gedichte von Nelly Sachs mit Bibeltexten. Die Kantaten leiten ihrerseits zum Symphonienprojekt hin, das in der Fünften Symphonie mit einer ausgedehnten (textlich mit den Kantaten verschränkten) Nelly-Sachs-Vertonung gipfelt.

Der größte Werkzyklus Yuns sind dann seine Symphonien, die in unmittelbarer zeitlicher Folge komponiert worden sind, und deren verbindende Logik Yun in diesem Fall durch die Satzfolge bzw. die Satzanzahl stiftet, die im Titel der Werke ausdrücklich festgelegt werden. Yun schreibt in fünf aufeinander folgenden Jahren fünf Symphonien mit einem, zwei, drei, vier bzw. fünf Sätzen: Symphonie I (1982/83; in vier Sätzen); Symphonie II (1984; in drei Sätzen); Symphonie III (1985; ein einem Satz); Symphonie IV (1986; in zwei Sätzen) und Symphonie V (1987; in fünf Sätzen). Die Gesamtanordnung der 15 Sätze weist zudem eine übergeordnete Symmetrie um die zentrale, einsätzige Dritte Symphonie herum auf, zu beiden Seiten der Symmetrieachse stehen jeweils sieben (4 + 3 und 2 + 5) Sätze. Eine strukturelle Klammer und Eigenart des Symphonienzyklus ist außerdem das Viertaktprinzip: Beginnend mit dem zweiten Satz der Ersten Symphonie unterlegt Yun den fünf Werken ein regelmäßiges Viertaktraster, das den Wechsel in der Instrumentation entlang von Taktanzahlen organisiert, die vier oder ein Vielfaches von vier betragen. - Ausgenommen ist hiervon nur der erste Satz der Ersten Symphonie, der nach Yuns Worten das "Chaos" schildert.

Dafür, dass Yun über diese zyklischen Zusammenhänge verschiedener Stücke einer Gattung hinaus auch sein gesamtes Schaffen planvoll angelegt hat, gibt es ebenfalls starke Indizien: So hat er etwa mit "Epilog" (1994) hinter sein Œuvre einen demonstrativen Schlusspunkt gesetzt. Zusammenfassend ließe sich also folgende These aufstellen: Spätestens seit Mitte der 1970er-Jahre ist das "Gesamtwerk" eine von Yun mit bedacht angelegte formale Kategorie seiner Musik. "Yuns gesamtes Œuvre ist ein einziger Fluss", schreibt denn auch sein Schüler Erwin Koch-Raphael, "jede seiner Kompositionen ist ein Teil daraus, sein Komponieren ein Kontinuieren." 8)

Konstellationen
Dieser "Fluss von Musik" folgt gewissen Regeln: So ist eine weitere wichtig Leitvorstellung Yuns das Denken in immer neuen Konstellationen, die aus einer sehr begrenzten Anzahl von Grundelementen gebildet werden. Am augenfälligsten ist dies bei der rigiden Beschränkung auf wenige Taktarten, die von den 1970er-Jahren an für alle seine Werke gilt. Die Metren korrespondieren dabei häufig mit bestimmten Charakteren und einer ebenfalls eng begrenzten Auswahl von Metronomangaben. Yuns extrem ruhige und friedvolle langsame Sätze etwa stehen meist im 6/4-Takt im Tempo Viertel = 52. Für bewegte Sätze oder Passagen unruhigen Charakters wählt er häufig einen 5/4-Takt mit Tempi zwischen Viertel = 60 bis 78. Die relativ schnellsten Passagen motorischen Typs (wie das Finale der Zweiten Symphonie; Viertel = 86) stehen häufig im 4/4-Takt. Der Wechsel von Takt, Tempo und Charakter wird dabei seit den Symphonien zum wichtigsten Gliederungsmittel der Yunschen Musik. Spätestens ab der dritten Schaffensperiode kann man somit eine im Detail vielfältig variierte, im Großen und Ganzen aber konstante Typologie der musikalischen Charaktere ausmachen. Aus den immer neuen Konstellationen dieser Grundelemente gewinnt Yun seine Musik.

Dieselbe Logik, alle Fälle innerhalb einer finiten Menge von Elementen durchzudeklinieren, lässt sich auch im klanglich-instrumentatorischen Bereich aufzeigen. So weist etwa Yuns Kammermusik einen bemerkenswerten Reichtum auf, was die Erfindung und Erprobung von immer neuen Besetzungen und Instrumentalkombinationen angeht. Dieser Reichtum verdankt sich aber nicht etwa der Wahl "exotischer" Instrumente - Yun beschränkt sich mit Ausnahme des Akkordeons auf die gängigen Orchesterinstrumente -, sondern ausschließlich seiner kombinatorischen Phantasie. In den Jahren 1958 bis 1994 hat Yun 66 Kammermusikwerke geschaffen; 17 davon sind Soli; bei den verbleibenden 49 Ensemblewerken vom Duo bis zum Kammerkonzert hat Yun dabei 42 verschiedene Besetzungstypen ausprobiert. Konkret gesagt, er hat tendenziell mit jedem neuen Werk auch nach einer neuen Klang-Kombination innerhalb des Bestandes der klassischen Orchesterinstrumente gesucht.
 Eine Ausnahme von diesem Prinzip, also die Wiederholung eines Besetzungstyps, bilden nur die etablierten "sakrosankten" Gattungen der Kammermusik, neben jeweils zwei Werken für Violine bzw. Flöte und Klavier, den beiden Bläser- und den zwei Klarinettenquintetten gilt dies vor allem für die vier Streichquartette.

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Der Streichquartettzyklus
Die besondere Bedeutung, die die Gattung Streichquartett für Isang Yun hatte, hat er dadurch herausgestrichen, dass er die vier von ihm als gültig anerkannten Streichquartette quasi im Nachhinein als einen Zyklus angelegt hat. Er bedient sich dabei einer ähnlichen Organisation der Satzanzahlen, wie er sie zuvor schon bei den Symphonien angewandt hatte. Es gibt vier Quartette mit jeweils einem, zwei, drei oder vier Sätzen: Streichquartett Nr. 3 (1960; drei Sätze) sowie die jeweils im Zweijahresabstand komponierten drei späten Werke, bei denen die Satzanzahl wiederum ausdrücklich im Titel vermerkt wird: Streichquartett IV (1988; in zwei Sätzen); Streichquartett V (1990; in einem Satz); Streichquartett VI (1992; in vier Sätzen). Musikalisch hat das zwölftönige Streichquartett Nr. 3 zwar mit seinen späten Schwesterwerken wenig gemein, doch ging es Yun durch eine solche Anlage seiner insgesamt vier Quartette offenbar darum, die ideelle Einheit seines Œuvres zu unterstreichen. Die drei späten Quartette IV bis VI sind darüber hinaus aber auch in einen musikalischen Entwicklungszusammenhang eingebunden. Jedes der Quartette teilt mit seinem Vorgänger jeweils eine wichtige Gemeinsamkeit, so dass man die Folge der drei Werke als eine Art Prozess verstehen kann.

Das gemeinsame Formprinzip der Quartette IV und V ist der regelmäßige Wechsel von vier- und zweistimmigen Passagen. Bis auf die langsamen Teile am Ende beider Stücke - die sich in Charakter, Tempo und Klang deutlich ähneln (Tempo: Viertel = 52; Metrum 6/4; Klangfarbe: con sordino) -, gilt für beide Quartette außerdem das Viertaktprinzip, das schon den vorangegangenen Symphonienzyklus geprägt hatte. - Auch hierin wahrt Yun also Kontinuität. Der Wechsel von der Vier- zur Zweistimmigkeit wird im Quartett IV tendenziell und im Quartett V streng entlang von Taktanzahlen geordnet, die vier oder ein Vielfaches von vier betragen. 9) Die beiden Quartette sind einander in ihrem Formprinzip und in ihrer formalen Zweiteilung mit einem ausgedehnten schnelleren und einem abschließenden langsamen Teil also so ähnlich, dass man sie geradezu als Varianten voneinander ansehen könnte - mit dem rein äußerlichen Unterschied, dass die zwei Formteile im Quartett IV noch als selbstständige Sätze ausgewiesenen sind. 10)

Yun Schema Quartett IV

Ein ähnlicher Kunstgriff verbindet auch die Quartette V und VI. Das verbindende Element ist in diesem Fall der analoge Wechsel der Satzcharaktere: Beide Quartette werden von einer Passage im Tempo Viertel = 60 im 5/4-Takt eröffnet; es folgt in beiden Quartetten ein schnellerer Abschnitt im Tempo Viertel = 68 im 4/4-Takt, und an dritter Stelle steht der schon bekannte Adagiotypus im Tempo Viertel = 52, im 6/4-Metrum und mit der Klangfarbe "con sordino" (ab Takt 30). Der Abfolge ihrer musikalischen Charaktere nach sind die beiden Werke bis hierin also weitgehend deckungsgleich - mit dem rein äußerlichen Unterschied, dass die einzelnen Abschnitte im Quartett VI als selbstständige Sätze ausgewiesenen sind. Die mehrsätzige Anlage schält sich sozusagen aus dem heraus, was an formaler Differenzierung im Vorgängerwerk bereits keimhaft angelegt war.

Yun Schema Quartett V

Als neues Element, das in keinem seiner Vorgänger ein Vorbild hat, kommt im Quartett VI der vierte Satz hinzu. Vorbild für das Streichquartett VI ist offenbar das klassische Modell der Viersätzigkeit mit den traditionellen Satzcharakteren. Der zweite Satz etwa ist unverkennbar als Scherzo angelegt. Dieser Rückgriff auf die klassische europäische Tradition, die somit als Konsequenz einer inneren Entwicklung der drei späten Quartette erscheint, wird unterstrichen durch die Wiedereinführung italienischer Vortragsanweisungen (z.B. "Lamentoso"), die Yun eigentlich bereits in den 1970er-Jahren durch objektive Metronomzahlen ersetzt hatte. Als krönenden Abschluss des Quartettzyklus führt Yun im vierten Satz des Quartetts VI zudem eine der wichtigsten Figuren seiner Tonrede ein: Ab dem Takt 49 versammeln sich alle vier Stimmen auf einer Oktave über dem aufwärts strebenden Leitton gis. Dessen Spannung löst sich erst auf dem letzten Viertel des Satzes in einen Schlussklang unter dem Spitzenton a3 - Yuns Tonsymbol für das Absolute - auf.

Bemerkenswert an der Disposition der beiden Quartette IV und V ist, dass Yun das Prinzip, die Klangkombination entlang eines Viertaktrasters zu wechseln aus dem vorangegangenen Symphonienzyklus beibehält. Dort hatte ihm ein komplettes Symphonieorchester, gegliedert in die Gruppen Streicher, Holz- und Blechbläser sowie Schlagzeug, zur Verfügung gestanden, um im regelmäßigen Wechsel neue Klangkombinationen hervorzubringen. Bei den Quartetten aber steht ihm nur ein homogenes Streicherensemble zu Verfügung. Yun löst dieses Problem, indem er für die Streichquartette IV und V eine eigenwillige, in der Geschichte der Gattung wohl singuläre Klangkonzeption entwirft: Es handelt sich bei den beiden Stücken auf weiten Strecken weniger um Quartette im eigentlichen Sinn als um heterophone Duos. Yun arbeitet häufig mit der Koppelung zweier Stimmen zu einem Stimmenpaar, das sich wie eine in sich komplexe Stimme ausnimmt. In den vierstimmigen Passagen kann er dann zwei solcher Duos verbinden, wobei meist zwei der Stimmen zu einem heterophonen Duett verschränkt sind, während das andere Stimmenpaar rhythmisch homophone Akzente dazu setzt. Durch eine solche Anlage ergeben sich wechselnde Klangkonstellationen, wie z.B. I. + II Violine / Viola + Cello oder I. Violine + Cello / II. Violine + Viola etc.

Streichquartett IV in zwei Sätzen (1988), T. 36 - 38
Yun QuartettIV

In den zweistimmigen Einschüben spielt er die möglichen Instrumenten-Kombinationen (2 Violinen, Violine + Viola, Violine + Cello, Viola + Cello) sogar konsequent durch. Nachdem jede Duokombination mindestens zweimal aufgetreten ist, führt Yun die klanglich Abwechslung durch spezielle Spieltechniken herbei: So sind das fünfte und sechste Duo im Quartett V durchweg pizzicato bzw. ricochet zu spielen. Das konstellative Musikdenken, das für die Instrumentation der Symphonien ebenso bestimmend war wie für die Suche nach immer neuen Klangkombinationen auf dem Feld der Kammermusik, prägt also auch die wechselnde Zusammensetzung des Streichquartettklanges. - Weniger rigoros ist dagegen das Quartett VI, in dem das Viertaktprinzip keine Gültigkeit mehr besitzt, und das sich, entsprechend der Rückkehr zum klassisch-romantischen Modell auf der formalen Ebene, im letzten Satz der Vorstellung eines Dialoges vierer selbstständiger Stimmen annähert. Vorläufiger Endpunkt der Entwicklung ist hier also die demonstrative Erinnerung an die Tradition der ehrwürdigen Gattung Streichquartett.

Deutungen
Die obigen Ausführungen ließen sich wie folgt zusammenfassen: Ähnlich wie die einzelnen Gesten in seiner Musik hängen auch die Stücke von Yuns Œuvre in einer nahtlosen Abfolge selbstständiger Momente zusammen. Im zeitlichen Ablauf, also im Durchgang durch die vier Jahrzehnte seines kompositorischen Schaffens, zeichnen sich dabei die planvoll organisierten Konturen eines Gesamtwerkes deutlich ab. Das Œuvre stellt sich als ein nach bestimmten Leitvorstellungen entworfener kontinuierlicher Entwicklungszusammenhang dar.

Die Interpretationen dieses Befundes können in verschiedene Richtungen weisen: Man kann seine über mehrere Jahrzehnte hinweg Kontinuität stiftende Arbeitsweise mit Yuns ostasiatisch geprägter geistiger Welt erklären, z.B. mit der Idee des "Klangstroms", aus dem jedes Stück nur ein Ausschnitt sei, wie es sein Schüler Erwin Koch-Raphael getan hat. Auch Yuns konfuzianisch geprägtes Ethos kann als Erklärung für die zentrale Rolle, die gerade die Erinnerung in seinem Denken und Fühlen spielt herangezogen werden. Dass der größte Teil seines Werkes erst im fortgeschrittenen Alter und quasi im Rückblick komponiert worden ist, wäre ebenfalls ein möglicher Erklärungsansatz für das ungewöhnlich Maß an Planung, das Yun in der Abfolge seiner Werke erkennen lässt. Der Quartettzyklus, der - gegen Ende seines Lebens komponiert -, bewusst das "Frühwerk" aus dem Jahr 1960 mit einbindet, wäre hierfür ein gutes Beispiel.

Ebenso berechtigt erscheint allerdings auch eine Erklärung, die Yun in den Kontext der europäischen Musikentwicklung stellt. In der Geschichte des Komponierens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind weite Zeitstrecken überspannende Projekte, wie Yun eines entworfen hat, als Denkmodell und Ideal intensiv diskutiert worden. Hier wäre etwa an das Credo von Karlheinz Stockhausen zu denken: "Meine Idealvorstellung ist jetzt, dass ich als Komponist noch einmal neu anfangen dürfte; dann würde ich vom ersten Tag an ein einziges Werk konzipieren und komponieren. (...) So, glaube ich, könnte eine ganz andere Konzeption von Komponieren entstehen in einer Zukunft, in der ein Komponist ein Lebenswerk komponiert." 11) Yun hat 1958 "neu angefangen" und sich dem Ideal eines "Lebenswerkes" so weit genähert, wie das Denken in den Kategorien und Gattungen der europäischen Konzertmusik und die Rücksicht auf die bestehenden Möglichkeiten und Verhältnisse des Musikbetriebes es irgend gestatteten.

Blickt man auf die Schaffensstrategien zahlreicher Vertreter der europäischen Avantgarde, lassen sich (im Detail sehr verschiedene) Ansätze zu verwandten Konzeptionen konstatieren - die nicht immer gleich auf ein komplettes Lebenswerk, wohl aber auf sehr weite Zeiträume und zahlreiche Einzel-Stücke übergreifende Zusammenhänge hinauslaufen. Ein Komponist wie György Kurtág etwa hat, beginnend mit den Nukleus des ersten Akkordes seines Opus 1, ein weit gespanntes Netz aus Stücken komponiert, die durch Ableitungen und Neufassungen auseinander hervorgehen und untereinander zusammenhängen. Zitate und Rückgriffe auf Historisches binden Kurtágs Projekt zudem in den Kontext der europäischen Musikgeschichte ein. Ähnliches gilt für das von Hans Werner Henze intensiv betriebene Parodieverfahren, das zu einem Werkverzeichnis letzter Hand geführt hat, bei dem hinter nahezu jedem Eintrag mindestens ein Verweis "siehe auch" steht. Wolfgang Rihm dagegen neigt, wie Yun, zu einer Kompositionsweise, in der jeder Moment zum Ausgangspunkt für den folgenden wird. So entstehen mitunter Folgen von Stücken, die aufeinander aufbauen wie etwa das riesige Projekt der fünfteiligen "Symphonie fleuve". 12) Krzysztof Penderecki dagegen betreibt seit Anfang der 1980er-Jahre ein groß angelegtes Symphonienprojekt, dessen äußerer Umriss mit der vorher festgelegten Anzahl von neun Symphonien bereits feststeht, und an denen er - ohne dabei noch auf die ,korrekte' Reihenfolge zu achten - komponiert, als wären sie "ein Stück". In solchen Zusammenhängen betrachtet, wäre Yuns Schaffensstrategie eine Konsequenz der inneren Entwicklung der europäischen Kunstmusik bis zum heutigen Tag.

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 1) Der vorliegende Aufsatz beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser am 2. November 2005 im Rahmen des Internationalen Symposions "Isang Yuns musikalische Welt und die ostasiatische Kultur" in Tongyeong / Südkorea gehalten hat.
2) Yun, Isang: Über meine Musik, in: Heister, Hans-Werner / Sparrer, Walter-Wolfgang (Hg.): Der Komponist Isang Yun, edition text + kritik, München 21997, S. 297 - 313, hier S. 309.
3) Eikemeier, Dieter: Zum Text von Yun Isangs "Memory" für drei Stimmen mit Schlagwerk (1974), in: Sparrer, Walter-Wolfgang (Hg.): Ssi-ol Almanach der Internationalen Isang Yun Gesellschaft 2000/01, Berlin 2002, S. 79 - 100.
4) Rinser, Luise/Yun, Isang: Der verwundete Drache. Dialog über Leben und Werk des Komponisten, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1977, hier S. 223.
5) Persönliche Auskunft der Tochter Djong Yun und von Walter-Wolfgang Sparrer an den Verfasser.
6) Takemitsu, Toru: "Dream and Number", in: Takemitsu, Toru: Confonting Silence. Selected Writings, Fallen Leaf Press, Berkeley/California 1995, S. 97 - 128, hier S. 102.
7) Auf den autobiografischen Bezug, den die Moabiter Sonette des zum Tode verurteilten Albrecht Haushofer für Yun gehabt haben müssen, ist bereits verschiedentlich hingewiesen worden. Die von Yun vertonten Haushofer-Gedichte enthalten aber auch Zeilen, die eine Parallele zwischen Christentum und Buddhismus ziehen - und somit geradezu wie ein Motto zu dem synkretistischen Chorkantaten-Projekt wirken: "Die großen Feßler, die das Herz versteinen, / des Willens Lüste, wie sie Buddha nennt, / das Christentum als harte Sünden kennt." Zitiert nach dem Booklet der CD IYG 004, S. 11.
8) Koch-Raphael, Erwin: Berührung durch Geist: die Musik Isang Yuns, in: ZeM Mitteilungsheft Nr. 10 (März 1993), S. 21ff.
9) In den nachstehenden Formübersichten sind solche Abschnitte, deren Taktanzahlen nicht vier oder ein Vielfaches von vier betragen, mit einem Asterix gekennzeichnet; die Grenzen zwischen zwei Sätzen sind durch einen waagerechten durchgezogenen Strich gekennzeichnet; klar eigenständige Abschnitte, die Yun aber nicht als selbstständige Sätze ausgewiesen hat, werden durch eine gepunktete Linie angedeutet.
10) Ähnlich bestimmt auch Walter-Wolfgang Sparrer in der bisher einzigen Studie zu den Streichquartetten das Verhältnis der Quartette IV und V: "Yun variiert und verdichtet hier [im Quartett V; IS] die Satzfolge seines Streichquartetts IV (1988). Auch behält er das formale Merkmal der im Partiturbild mehrfach - achtmal im ersten Teil und einmal im zweiten Teil - heraustretenden Duoformationen bei." Sparrer, Walter-Wolfgang: Identität und Wandel. Zu den Streichquartetten III - VI, in: Bergmeier, Hinrich (Hg.): Isang Yun. Festschrift zum 75. Geburtstag, Bote & Bock, Berlin 1992, S. S. 28 - 57, hier S. 44.
11) Stockhausen, Karlheinz: Ein Lebenswerk, in: Stockhausen, Karlheinz: Text zur Musik Band 9 1984 - 1991, Stockhausen-Verlag, Kürten 1998, S. 35 - 50, hier S. 48/49.
12) Ein signifikanter Unterschied zu Yuns Art, Zusammenhänge zu stiften, ist, dass z.B. bei Kurtág, Henze, Rihm u.a. die Verbindungen der Stücke stets auf Substanzgemeinschaft, also auf der Übernahme konkreter Reihen, Themen, Passagen etc. beruhen. Yun dagegen stellt die Einheit seines Œuvres nicht durch intertextuelle Bezüge her - Selbstzitate hat bei ihm bisher noch niemand nachgewiesen -, sondern dadurch, dass er mehrere Stücke z.B. durch die Satzanzahlen oder durch aufeinander bezogene Formverläufe zu einer übergeordneten Einheit integriert.

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