Ilja Stephan Musikpublizist

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Zoltan Pesko - György Kurtágs "New Messages" und "Grabstein für Stephan"
in: Programmheft Hamburger Musikfest, September 2003, S. 34 - 36.

Sie kennen György Kurtág seit vielen Jahren, wie haben Sie ihn kennen gelernt?
Peskó: Ganz am Anfang meines Musikstudiums, 1953, kam Kurtág öfter als Hospitant in unsere Unterrichtsstunden. Ich glaube, was ihn damals dazu bewegte, war, dass er schon vorhatte, eine pädagogische Laufbahn einzuschlagen; er wurde später einer der bedeutendsten Lehrer am Budapester Konservatorium. Außerdem muss er schon den Plan gefasst haben, sich mit elementaren pädagogischen Stücken zu beschäftigen. Eines seiner berühmtesten Stücke sind die "Játékok" (Spiele), eine Sammlung von Stücken für den Anfängerunterricht - ihrer Bedeutung nach nur zu vergleichen mit Bartóks "Mikrokosmos".

Die intensive Auseinandersetzung mit Menschen scheint für Kurtág stets im Mittelpunkt seines Schaffens zu stehen?
Peskó: Fast alle seine Werke sind aus persönlichen Kontakten heraus entstanden. Sie sehen das schon an den Titeln dieses Konzerts, es gibt hier kaum ein Stück, dass nicht jemandem gewidmet wäre. Alle entstanden übrigens nach langen schöpferischen Prozessen, oft sagt er sogar noch nach "Vollendung" eines Werks, es sei ein "work in progress" - d.h. zu einer eventuellen späteren Metamorphosen fähig.

Kurtág ist stets sehr kritisch mit sich?
Peskó: Überkritisch. Da ist Frau Márta Kurtág sehr behilflich, die Stücke bei der Geburt am Leben zu erhalten, sie ist eine ausgezeichnete Musikerin. Bei einigen Sätzen der "Messages"-Serie op. 34 fiel allerdings mir diese Aufgabe zu - er wollte sie wegwerfen. Wir konnten 1995 mit dem WDR-Orchester eine Art von Probeaufnahme machen. Erst dann war er von deren Lebensfähigkeit überzeugt, schrieb drei neue Sätze hinzu und begann auch das eigentlich unabhängige Zwillings-Werk, die "New Messages". Dieses wurde im Januar 2000 von den Berliner Philharmoniker uraufgeführt. Es besteht aus sechs Sätzen, wobei der Schlusssatz die Töne des ersten Satzes wiederholt - freilich zauberhaft poetisch verwandelt.

Wie kommt es, dass im Titel der beiden Sätze, "Merran's dream (Caliban detecting - rebuilding Mirranda's dream)", Mirranda's Name gegenüber Shakespeare mit zwei "r" geschrieben wird?
Peskó: Den Grund hat er nie eindeutig erklärt. Diese Musik ist nach der Erzählung einer Bekannten namens Merran geschrieben, die sehr intensiv über Shakespeares "Sturm" geträumt hatte - vielleicht gab es da in ihrem Bericht einen Hinweis, oder es soll an die zwei "r" in Merran erinnern.
Verweise
Kurtág scheint Netze aus Querverweisen sehr zu lieben.
Peskó: Die sind mal weit entfernt, mal sehr naheliegend: Jeder dieser Orchestersätze hat z.B. als Vorläufer eine eigene Solokomposition: Nr. 1, 2 und 4 waren ursprünglich Klavierstücke. Nr. 2 bringt gleichzeitig auch ein historisches Zitat, es ist eine Bearbeitung von Johannes Walthers bekannter Choral-Melodie "Aus tiefer Not", die auch von J. S. Bach mehrmals bearbeitet wurde. Nr. 3, "Shadows", ist aus einem Stück für Cello solo hervorgegangen - alle, die es bisher gespielt haben, sind der Meinung, dass es eine Beziehung zu der von Mahler mit "schattenhaft" bezeichneten Triolenbewegung im Scherzo der 7. Symphonie hat. Das vierte Stück ist "Les adieux - in Janáceks Manier", der Adressat dieses endgültigen Abschieds ist der ehemalige deutsche Kulturattachee in Budapest, Egon von Westerholt. Die "Manier" besteht darin, dass Kurtág Anleihen bei einigen Formeln von Janáceks Melodiebildung und Harmonieführung macht. In diesem Satz - wie übrigens auch im "Grabstein" - gibt es außerhalb des Podiums, im Saal spielende Musiker; sieben Streichinstrumente, die von einem sogenannten Hoteldämpfer sordiniert ganz leichte Töne erzeugen.

Was schreibt Kurtág Ihnen in der fünften "New Message", die an Sie gerichtet ist?
Peskó: Ich hatte mir während der Komposition eine kritische Bemerkung erlaubt, warum er bei einer solchen großen, orchestralen Serie nur langsame Sätze schreibt. Er ist darauf erst mal nicht eingegangen, aber ein paar Wochen später hat er mir dann dieses sehr lebendige Stück geschickt. Es ist die Neufassung eines Fragments aus einem frühen Cimbalomwerk, den "Splittern" op. 6c.

Wem ist "Grabstein" gewidmet?
Peskó: "Grabstein" ist für Stephan Stein geschrieben, er war Sänger und der Ehemann von Marianne Stein, die vermutlich eine der wichtigsten Personen im Leben von Kurtág ist. Sie führte dort eine Art literarischen Salon als er 1957 in Paris war. Marianne Stein hat Kurtág sehr geholfen, seinen Weg zu entdecken; sie war es vermutlich, die seine Aufmerksamkeit auf den musikalischen Aphorismus gelenkt hat. Jedenfalls hatten wir das Gefühl, dass Kurtág auch äußerlich als völlig anderer Mensch aus Paris zurückgekommen ist.

"Grabstein" enthält einige Geräusch-Effekte, die man dem Titel nach so nicht erwarten würde...
Peskó: Ich kam 1989 einmal an einem Sonntagnachmittag mit Kurtág nach einer Vorstellung von "Luisa Miller" aus der Mailander Scala - Sie wissen, dieses Finale mit Luisas Tod und dem leisen Ausklang -, und draußen begegnete uns ein Menschenmeer aus Fans des AC Milano, deren Mannschaft gerade den Pokal gewonnen hatte. Es waren Tausende von Fans, mit billigen Hupen aus Plastik und Trillerpfeifen. Ihr Jubel hallte durch die große Kuppel der Gallerie zwischen dem Dom und der Scala und schwoll an bis zu einem ohrenbetäubenden, unerträglich vulgären Geräusch. Kurtág meinte damals, dass er so etwas gerne in eine Komposition einbauen würde, und ich habe ihm dann bei einem fliegenden Händler drei solcher Plastik-Hupen gekauft. Deren seltsames Geräusch wurde in "Grabstein" zum Zitat, die Solo-Gitarre spielt davor und danach ganz einfache, ausklingende Arpeggi - ein größerer Kontrast in Laustärke und Ausdruck ist kaum vorstellbar.

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