Ilja Stephan Musikpublizist

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„Blumen die Menschen, nur Blumen“
György Kurtágs „Spiele“ für Klavier
in: Programmhefte Rheingau Musik Festival, August 2004.

„Ich sabotierte die Musik, übte höchstens 5 – 10 Minuten in der Woche.“ So berichtet György Kurtág selbst über seine ersten kindlichen Konflikte mit beflissener Klavierpädagogik. Aber das zarte Pflänzchen eines keimenden Musikinteresses hatte noch Schlimmeres auszustehen: „Einmal hat man mich im Chor ermahnt, ich solle still sein, weil ich die anderen störe. Und seitdem, vielleicht auch im Zusammenhang damit, erlosch mein absolutes Gehör für Singstimmen, bis zum heutigen Tag.“ Offenbar waren dies alles aber lehrreiche Erfahrungen, denn in späteren Jahren wurde die hohe Kunst, Musik vermitteln zu können, die er als Kind so offenkundig vermisst hat, für ihn selbst zur wichtigsten Aufgabe. Der passionierte Lehrer Kurtág sagt heute von sich: „Ich verstehe Musik nur wenn ich sie lehre. Selbst wenn ich Musik höre oder spiele, ist es nicht dasselbe, als wenn ich daran arbeite, sie für andere verständlich zu machen. Ich liebe Musik einfach.“ So wird es dem Dozenten für Klavier auch sehr gelegen gekommen sein, dass die Klavierlehrerin Marianne Teöke ihn 1973 um einige Beiträge zu einem pädagogischen Sammelband anging. „Binnen kurzer Zeit hatte ich fast 200 Stücke geschrieben. In den drei Jahren zuvor habe ich dagegen gar nichts geschrieben.“

Mit den „Játékok“ arbeitete Kurtág sich nicht nur aus einer kompositorischen Krise heraus, er stellt sich mit dieser Sammlung auch in eine Reihe mit Komponisten wie Bartók oder Bach, für die das Lehren und Vermitteln von Musik von den elementarsten Stufen an bis hin zum hochentwickelten Kunstwerk ein integraler Teil ihrer schöpferischen Arbeit war. Bach hat selbst Werke wie seine „Goldbergvariationen“ oder die sechs Partiten noch unter dem Titel der „Klavierübungen“ herausgegeben. Und Bartok hat in seinem „Mikrokosmos“ nicht nur seinen Sohn ans Klavierspiel herangeführt, sondern auch die Grundbegriffe seiner kompositorischen Technik exemplarisch vorgeführt. Allen drei Komponisten ist gemeinsam, dass sie Ihre ,pädagogischen‘ Werke als Herausforderung begriffen haben, die Grundlagen ihrer musikalischen Sprache so deutlich und unmittelbar zu formulieren, dass sich auch Anfängern und Kindern ein direkter Weg zum Ganzen ihrer musikalischen Welt eröffnet. Es ging und geht hier niemals bloß um Übestücke, sondern stets um Modellfälle.

Der Grundsatz des musikalischen Aphoristikers Kurtág „Man kann Musik aus beinahe gar nichts machen“, lässt sich nirgends so gut ablesen wie an den manchmal nur wenige Noten umfassenden Miniaturen der vermeintlichen ,Klavierschule‘. Und dass die „Spiele“ Teil seines gesamten kompositorischen Projektes sind, belegt nicht zuletzt der Umstand, dass Kurtág sie immer wieder als Materialquelle für andere Werke heranzieht – so sind etwa seine 12 Mikroludien für Streichquartett (Hommage à András Mihály) op. 13 (1977) aus den entsprechenden Stücken des dritten Bandes hervorgegangen. Bis heute ist die Sammlung auf sieben Bände angewachsen – von denen fünf veröffentlicht sind – , und da Kurtág ihnen noch immer keine Opusnummer zugeordnet hat, wird man davon ausgehen können, dass er sie als weiterhin wachsendes „work in progress“ begreift. Auf den intimen und bekenntnishaften Charakter der Stücke weist dabei der Untertitel des fünften Bandes „Tagebucheintragungen, persönliche Botschaften“ ebenso hin, wie die zahlreichen Widmungen und In-memoriam-Kompositionen für verstorbene Freunde oder andere ihm wichtige Personen. Auch Kurtágs ausgeprägtes musikhistorisches Gedächtnis schlägt sich in dieser Sammlung nieder, bereits in den Titeln gibt es u.a. Bezugnahmen auf Beethoven („Les Adieux“), Liszt, Debussy, Veress, Bach, Stockhausen, Schnittke oder Nancy Sinatra.

Kurtágs musikalisches Denken ist somit auch in den „Spielen“ ein Denken in Verweisen und Querverbindungen; am Augenfälligsten wird dies an einem rätselhaften Titel, der sich wie ein roter Faden durch sein Werk, vor allem aber durch die „Játékok“ zieht: „Blumen die Menschen ...“. Fünf Stücke dieses Namens finden sich allein im ersten Band der „Játékok“, und auch in den folgenden Bänden tritt er immer wieder auf. Der Titel entstammt Kurtágs Vokalzyklus „Die Sprüche des Peter Bornemisza“ op. 7 (1963 – 1968); er bezeichnet dort das Resümee eines der Sprüche des ungarischen Dichters Bornemisza (1535 – 1584), der den Menschen in seiner Vergänglichkeit mit der verletzlichen und flüchtigen Schönheit der Blumen in Verbindung bringt: „Es rafft dich der Tod wie den Vogel die Schlinge, für immer rafft er dich hin – Blumen (sind) die Menschen, nur Blumen.“ Kurtágs Blumenstücke sind sämtlich äußerst kurze Aphorismen, die mit den elementarsten Mittel auskommen; das kürzeste von ihnen besteht lediglich aus sieben weit über die Tastatur verteilten Einzeltönen. Mühelos könnte das auch ein Solist bewältigen. Werden die Töne aber von zwei Personen an einem Instrument gespielt, wie hier vom Ehepaar Kurtág, so scheint in den Bewegungen der Spieler der Grundgedanke des Verbindens und Verschränkens auf, denn beim Vierhändigspiel überkreuzen sich die Arme in vielfältiger Weise. Nicht nur die Töne, sondern zweier Menschen Arme umschlingen sich hier – und wer will, kann somit noch im kleinsten der ,Kinderstücke‘, von dem Kurtág gleichwohl sagt, es sei eine seiner „wichtigsten und eigenständigsten Komposition“, eine Entgegnung auf die bei Bornemisza beschworene Drohung des Todes finden.

„Wo ich etwas brauche, beispielsweise etwas Komplexes, das mir bei Bach oder anderen einleuchtender erscheint, als ich es selbst schreiben könnte, übernehme ich es in meine Programme. Es erhält und erfüllt dann eine Funktion im Zusammenhang mit dem Eigenen.“ So begründet Kurtág selbst, warum er in den Programmen, die er zusammen mit seiner Frau Márta spielt, die stets latente Verbindung zur Musikgeschichte durch Einschaltungen von historischem Material manifest werden lässt. Bachs Choral „Aus tiefer Not“ – dessen Bearbeitung sich u.a. auch als „Botschaft an Madeleine Santschi“ in seinen „New Messages“ op. 34a findet – scheint für ihn eine solche komplexere Formulierung der im Blumenmotto zum Ausdruck gebrachten Zerbrechlichkeit des Menschen zu sein. Der musikalische Knoten, der diese Bach-Transkription wiederum mit dem folgenden Doppelstück der „Játékok“ verknüpft, ist die Form des Chorals. Seinen Choral hat Kurtág dem ungarischen Musikwissenschaftler „Benjamin Rajeczky zum 80. Geburtstag“ gewidmet; das vorangehende Präludium ist eine Neufassung des schon 1960 komponierten „Szálkak“ (Splitter) op. 6d/I. So verschränken sich in Kurtágs „Spielen“ nicht nur die Töne oder die Arme der Spielenden, sondern eigene und fremde Stücke sowie persönliche Botschaften und Widmungen zu einem seine gesamte Musik, seine Lebenswelt, seine Frau, Freunde, musikalischen Vorbilder und Kollegen verbindendem Netz von großem inneren Zusammenhalt – das gleichwohl nur aus flüchtigen Momenten gewoben wurde. Musik als Kommunikation gelingt nur, so kann man die Lehre aus Kurtágs Lehrstück ziehen, wo die Musik mit Menschen und die Menschen miteinander innig verwoben sind.