Ilja Stephan Musikpublizist

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Yuè oder Die Tugend der Klänge
Musik zeitgenössischer chinesischer Komponisten
in: Programmheft NDR Sinfonieorchester/Kammerkonzerte, November 2006, S. 4 - 8.

In seiner ursprünglichsten Form zeigt das chinesische Schriftzeichen Yuè eine Person, die in jeder Hand ein Schellenbündel trägt und eifrig schüttelt. Durch mehrere Jahrhunderte und einige Schriftreformen ist diese realistische Darstellung bis zu jenem komplexen Ensemble aus Pinselstrichen stilisiert worden, das bis heute gebräuchlich ist.

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Stärker noch als seine äußere Form aber hat sich das inhaltliche Konzept verfeinert, welches durch das Zeichen Yuè repräsentiert wird. Im Kern meint Yuè alles, was den Menschen im positiven Sinne innerlich bewegt und antreibt: „Musik“ und „Freude“ lassen sich beide mit demselben Zeichen schreiben. In frühester Zeit stand Yuè für die Einheit von Musik, Tanz und Dichtung, später verengte sich der Begriff auf die reine Tonkunst. Der aber schrieb man die größtmögliche ethisch und politische Bedeutung zu: „Erst der tugendhafte Yin (Klang) ist Yuè (Musik)“, heißt es im konfuzianischen Klassiker, dem „Buch der Riten“. Musik, das war im Reich der Mitte jahrtausendelang Sinnbild und Garant der Harmonie von Natur und menschlicher Lebensordnung und damit eine im wahrsten Sinne des Wortes staatstragende Praxis.

Ein Politikum blieb die Musik auch im 20. Jahrhundert. Anders als etwa in Japan, wo man sich mit Feuereifer die europäische Kunstmusik zueigen machte, gab es in China lange eine ausgeprägte Abneigung gegen alles Westliche. Hier hatte man unmittelbar unter den Folgen europäischer (und japanischer) Großmacht- und Kolonialpolitik gelitten; und der Sieg der Kommunisten 1949 wurde nicht zuletzt als Sieg über alle fremdem Einflüsse gefeiert. Zwar eignete man sich auch hier vor allem jene musikalischen Techniken und Modelle an, die für Zwecke der Volkserziehung und Propaganda nützlich waren, mit der „bürgerlichen Kultur“ des Westens aber ging man ebenso scharf ins Gericht wie mit den Zeugnissen der eigenen mehrtausendjährigen „Feudalzeit“. Am verheerendsten wirkt sich dies während der „Großen proletarischen Kulturrevolution“ der Jahre 1966 bis 1976 aus. Eine Änderung dieses Kurses erfolgte erst nach Maos Tod 1976. Im Jahr 1978 wurden am Konservatorium in Beijing erstmals wieder Studenten zum Kompositionsstudium zugelassen. Der Wegbereiter der neuen Musik in China, Chou Wen-Chung, konnte 1979 aus den USA zu einem Gastvortrag einreisen; Komponisten wie Alexander Goehr, Georg Crumb oder Hans Werner Henze folgten und vermittelten den Lernbegierigen die Erfahrung der europäischen Avantgarde. In dieser produktiven (und kurzen) Zeit des Aufbruchs versammelten sich am Konservatorium in Beijing eine ganze Reihe von Nachwuchskomponisten, für die man in China selbst den Begriff xinchao („neue Welle“) geprägt hat. Unter ihnen waren heute so bekannte Musiker wie Tan Dun; Sheng Zhengliang (Bright Sheng), Qu Xiao-Song oder Chen Xiaoyong. Sie alle haben China bald verlassen, um im Ausland weiter zu studieren – viele von ihnen bei Chou Wen-Chung an der Columbia University in New York. Karriere haben sie dann in New York, Paris oder Hamburg gemacht. Das Leben im westlichen Ausland zählt somit ebenso zum gemeinsamen Erfahrungshorizont dieser Generation wie die Kulturrevolution oder die politische Öffnung der 1980er-Jahre, aber auch der Schock über die blutige Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Tian’anmen-Platz am 4. Juni 1989.
 
CHOU WEN-CHUNG
Wie Isang Yun (1917 – 1995) für Korea oder Toru Takemitsu (1930 – 1996) in Japan so ist Chou Wen-Chung (*1923) der wohl wichtigste Wegbereiter der neuen Musik für China gewesen. Chou war schon 1946 in die USA emigriert, wo er bis heute lebt. Er wurde dort ein enger Freund und Schüler von Edgard Varèse, der ihn für die Klangrecherchen der Avantgarde ebenso begeisterte wie für die Musik der europäischen Renaissance. 1964 wurde Chou Kompositionslehrer an der Columbia University New York, und als 1972 die USA und die Volksrepublik China vorsichtige Schritte der Annäherung wagten, besuchte Chou erstmals wieder seine Heimat. 1978 gründete er das Center for U.S.-China Arts Exchange; und seit Mitte der 1980er-Jahre setzte er sich intensiv dafür ein, ausgewählten Studenten des Beijinger Konservatoriums ein Studium an der Columbia University zu ermöglichen. Seinem Wirken als Lehrer kommt für die chinesische Musik wohl eine ähnliche Bedeutung zu, wie sie Olivier Messiaen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Neben der Arbeit als Komponist und Hochschullehrer hat Chou aber auch eine rege Tätigkeit als Publizist entfaltet. Sein Grundgedanke ist, was er „re-merger“, eine Wiederverschmelzung, der Kulturen nennt. Ausgehend von der Idee, dass alle Kulturen einem gemeinsamen Ursprung entstammen, hat er sich ganz dem Herausarbeiten von Verbindungslinien und Anschlussmöglichkeiten zwischen Ost und West verschrieben.

In seinem Stück „Windswept Peaks“ bezieht Chou sich in verschiedener Weise auf die wenren-Gelehrtentradition Chinas. Unmittelbarer Anlass für die Komposition war das Massaker vom Tian’anmen-Platz; der Titel greift daher eine Metapher der klassischen Ikonografie auf, bei der Standhaftigkeit und innere Stärke im Bild einer auf sturmumtoster Höhe stehenden, ihre Wurzeln tief in den Felsen eingrabenden Pinie angedeutet werden. Solche in Naturbilder gefassten Anspielungen (xing) zählen zu den bevorzugten Ausdrucksmitteln der elitären und hermetischen Gelehrtenkunst. Nach dem Vorbild der aristokratischen qin-Musik gibt Chou seinem Werk im Vorwort zudem ein regelrechtes Programm mit auf den Weg – so berichtet er von seinen Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und von dem Trost, den er in der Musik Mozarts und Bachs gefunden habe. Doch darf man keine direkte Umsetzung dieser Vorlage in Musik erwarten. Vielmehr zählt es zur Tradition von wenren solche Gehalte extrem zu abstrahieren. Das wechselvolle Auf und Ab des Lebens kleidet Chou in eine Musik, die sich auf weiten Strecken aus dem Wechselspiel zweier bevorzugter Intervallklassen (konsonanter Terzen/Sexten bzw. dissonanter Septimen/Nonen) ergibt. Den westlichen Hörer erinnert ein solches Verfahren zu Recht an die rigiden Tonkonstellationen von Chous Vorbild Anton von Webern, doch hat Chou die Intervallverhältnisse seiner Musik aus dem alten Orakelbuch „I Ging“ abgeleitet – wobei sich das komplementäre Ineinander von Yin und Yang im Wechselspiel von Konsonanz und Dissonanz bzw. im Verhältnis der Instrumentenpaare Violine/Violoncello und Klavier/Klarinette spiegelt.
TAN DUN
Der Weltstar unter den Studenten Chou Wen-Chungs ist der Oscar-Preisträger Tan Dun. Tan war 1986 von Chou an die Columbia University geholt worden, doch scheint er sich in Chous Klasse kaum blicken gelassen zu haben. Zum Abschied, so berichtet sein Lehrer, sei er einmal kurz erschienen, habe einen verächtlichen Blick auf die Studienarbeiten geworfen und sich mit einem „Brütet ihr Typen immer noch über Noten“ wieder davongemacht. Dafür entwickelte Tan umso intensivere Kontakte zur Künstlerszene von downtown New York. In Tans Poetik hat dies deutliche Spuren hinterlassen; kaum ein Komponist jongliert so gewandt mit Medien und musikalischen Stilen wie er: In seinen Symphonien „Heaven Earth Mankind“ und „Today 2000: A World Symphony“ montiert Tan etwa Beethovens Ode an die Freude, Peking-Oper, einen von den Gypsy Kings gesungenen Bob-Marley-Song, tibetanischen Ritualgesang und japanische Taiko-Trommler zu einem als „kulturellen Kontrapunkt“ bezeichneten Pasticcio. Tan hat als bildender Künstler gearbeitet und experimentelle Musik für Papier-, Wasser- oder Keramikklänge geschrieben, er hat Hollywood mit der Filmmusik zu „Tiger and Dragon“ beglückt und ist zugleich ein guter Kenner der bäuerlichen Volksmusiken Chinas. Auf die Ereignisse des 4. Juni 1989 reagierte Tan mit dem Stück „Snow in June“ für traditionelles chinesisches Orchester. In ihrem spielerischen, häufig auch parodistischen Umgang mit Versatzstücken der Tradition könnte man ihn wohl mit machen Tendenzen der gegenwärtigen chinesischen Malerei vergleichen. Doch bleibt Tan stets Entertainer. Der „zynische Realismus“ mit dem etwa ein Liu Wei die ehrwürdige Tradition der Tuschezeichnung und das jahrtausendealte Obrigkeitsdenken seiner Landsleute aufs Korn nimmt, indem er ihre nackten, gebeugten Gestalten zu einer imaginären Landschaft formt, ist Tans Kunst fremd.

Tan Duns „Circle“ ist ein gutes Beispiel für die wichtigsten Entwicklungslinien seiner Arbeit. Seit Anfang der 1990er-Jahre versucht Tan, das Publikum in die Aufführung seiner Werke mit einzubeziehen und so die klassische Konzertsituation zum Ritual zu erweitern. Das Erbe der chinesischen Musik verbindet er dabei mit einem erst in der neuen Musik des Westens voll entwickelten Sinn für den Eigenwert der Klänge: Für die alte chinesische Musik waren Klangfarben die wichtigste Kategorie; man sortierte sie u.a. nach der Art ihrer Produktion als geblasene, gestrichene oder gezupfte Klänge. Der viergeteilte Klangapparat von „Circle“ verteilt nun ähnlich zusammengestellte Instrumentengruppen auf verschiedene Positionen im Raum. Tans postmodernes Jonglieren mit Versatzstücken der verschiedensten Traditionen kommt dabei in der Verwendung eines alten griechischen Hymnus zum tragen.
QU XIAO-SONG
Als das absolute Gegenbild zur Weltläufigkeit und Exuberanz Tan Duns kann sein Kollege Qu Xiao-Song gelten. Der zentrale Begriff von Qus Poetik heißt „Stille“. Die Stille fungiert als Urgrund und Folie seiner Musik, wie die frei bleibenden Flächen in der alten Kunst der Tuschezeichnung, bei der mitunter nur wenige Striche auf leerem Papier eine Landschaft, Licht, Stimmungen und Jahreszeiten andeuten. Qus Werk zeichnet sich durch äußerste Reduktion, Konzentration und eine bewusste Rückbesinnung auf philosophische Konzepte und die herbe Klanglichkeit archaischer Musiken aus. Auch Qu hatte (wie Tan oder Chen) während der Kulturrevolution zwangsweise Arbeitsdienst auf dem Land zu leisten. Hier lernt er sowohl die Lebensweise als auch die Traditionen und Spielweisen der bäuerlichen Volksmusik kennen und schätzen. 1989 zog es dann auch ihn zu Chou Wen-Chung nach New York, wo er 10 Jahre lang als freischaffender Komponist lebte. Heute hat Qu eine Professur für Komposition am Konservatorium in Shanghai inne. Als äußerst skrupulöser Künstler und Denker ist Qus Schaffen durch lange Pausen gekennzeichnet, in denen er nicht komponiert, sondern sich dem Verfassen philosophischer Bücher widmet. Charakteristisch für sein Denken ist dabei die Sorge um den Verlust des kulturellen Erbes und eine klare Opposition gegen die sich in China rasant ausbreitende Lebensweise einer modernen Industriegesellschaft.

Die Berichte vom Tian’anmen-Massaker in Beijing bewogen Qu 1989 dazu, von seinem Studienaufenthalt in New York vorerst nicht nach China zurückzukehren; und auch des Komponierens enthielt er sich für längere Zeit. Das erste Projekt, das er Anfang der 1990er-Jahre wieder in Angriff nahm, war ein Zyklus von vorerst sechs Stücken mit dem Titel „Ji“ (Stille). In „Ji #2 – Floating Clouds“ wird dabei ein vokaler Ausbruch der Instrumentalisten von zwei meditativen Abschnitten umrahmt. Ob das Flüstern und Rufen der Musiker eine tiefere (gar politische) Bedeutung hat, verrät Qu nicht, es seien schlicht Titel von Werken der Sichuan Oper und sinnfreie Laute: „Es ist wie im täglichen Leben, wir hören laute und leise Stimmen, aber wenn unser Herz ruhig ist, verschwinden sie alle, nur ewige Stille bleibt. Klang und Stille, das ist Leben.“

WANG YUE
Der junge Komponist Wang Yue ist Qu Xiao-Songs Schüler und Verwandter im Geiste. Wang ist als „Composer-in-residence“ der Universität Witten-Herdecke im Jahr 2003 nach Deutschland gekommen und lebt seit 2005 in Hamburg. Wie im Werk Qus spielt auch bei Wang die Stille eine zentrale Rolle; er mutet dem westlichen Interpreten ein Maß an Langsamkeit und von Nichts erfüllten, zeitlich genau festgelegten Pausen zu, die jede voraneilende Ungeduld auf eine harte Probe stellen. Statt mit Ereignisreichtum arbeitet Wang im ersten Teil von „Ji – Mo“ (Stille – Unendlichkeit) mit feinsten Schattierungen des Einzeltones. Die lang gehaltenen Töne werden durch Dynamik und den Wechsel von „molto vibrato“ zu „senza vibrato“ schattiert, wo Töne sich wiederholen, nuanciert Wang ihre Klangfarbe, indem er sie auf verschiedenen Saiten hervorbringen lässt. – Hier kommt das hohe Ideal der chinesischen Kunstmusik zum tragen, die sich von jeher mehr für die subtile Artikulation des einzelnen Tones als für die möglichst kunstvolle Kom-position mehrerer Töne interessiert hat. Solche Strecken konzentrierter Reduktion entladen sich in Wangs Musik dann immer wieder in kurzen heftigen Gesten der Violine.

CHEN XIAOYONG
„Meine Wurzeln sind natürlich in China, aber ich lebe jetzt seit 21 Jahren in Europa“, so bringt Chen Xiaoyong das Verhältnis zu seinen chinesischen Ursprüngen selbst auf den Punkt. „Wenn es schon eine tiefe Wurzel und einen starken Stamm gibt, ist es doch viel interessanter, was darauf wächst.“ Anders als bei der demonstrativen Rückbesinnung auf die traditionellen chinesischen Werte und philosophischen Konzepte bei Qu oder Wang, zielt Chen Xiaoyong auf eine neue, eigene Synthese, wie sie nur jemandem möglich ist, für den das Leben in zwei Kulturen zum selbstverständlichen Teil der eigenen Biografie gehört. Während es die meisten seiner Generationsgenossen ab Mitte der 1980er nach New York oder Paris zog, kam Chen 1985 nach Hamburg, um bei György Ligeti zu studieren. Der Einfluss von Ligetis Denken und Persönlichkeit ist aus seiner Entwicklung denn auch kaum wegzudenken. „Du sollst nicht chinesisch sein, Du sollst Chen sein.“ Erst dieser Rat seines Lehrers habe ihn zu seiner eigenen Sprache finden lassen. 1995 würdigte seine zweite Heimatstadt Hamburg Chens Arbeit mit dem Bachpreis; heute lebt und arbeitet er in Hamburg und Shanghai, wo er einem Lehrstuhl für Komposition innehat. Politisch sei die Avantgarde dort inzwischen kein Thema mehr, man genieße absolute ästhetische Freiheit, dafür aber sei die Not im Kampf und Geld und öffentliche Aufmerksamkeit umso größer: „Ähnlich wie im Westen.“

Am deutlichsten spürbar sind Chens chinesische Wurzeln noch dort, wo er für traditionelle chinesische Instrumente schreibt, da denen eine gewisse Idiomatik stets anhaftet, auch wenn Chen z.B. die Zheng (Zither) wie bei „Invisible Landscapes“ chromatisch umstimmen lässt. Umgekehrt verfremdet er im Schlussabschnitt aber auch den Klang des Klaviers, den er durch Präparation dem Charakter chinesischer Zupfinstrumenten annähert. Zu „Invisible Landscapes“ schreibt Chen: [Der Titel] bezieht sich auf eine Vielzahl von Bildausschnitten, die teils aus der Erinnerung an meine Kindheit und Jugend und teils aus persönlichen mentalen Bildern ohne definierbare Herkunft stammen. Diese Bilder sind unsichtbar, weil sie rein geistiger, ideeller Natur sind. Ich will mit dieser Komposition nicht reale Landschaften musikalisch illustrieren, sondern meine inneren Bilder klanglich umsetzen. Diese Musik ist ein Vermittler zwischen meinen Empfindungen und dem Hörer – sie soll in die unsichtbare Welt des Hörens jenseits des Konkreten, Sichtbaren und klar Definierbaren einführen.“