Ilja Stephan Musikpublizist

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Wer bin ich und wenn ja, wie viele?
Michel van der Aas Kammeroper "One"
in: Programmheft Schleswig-Holstein Musik Festival, August 2006.

"Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe, / und ringt die Hände vor Schmerzens-Gewalt, / mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe, / der Mond zeigt mir meine eigene Gestalt. / - Du Doppelgänger! Du bleicher Gesell!" Seit die literarische Romantik sich an die Erkundung der Nachtseiten der menschlichen Seele gemacht hat, sind sie unlösbar miteinander verbunden: Das Motiv des Doppelgängers und das heimliche Grauen, das einen befällt vor dieser Kopie des wirklichen Lebens, die ihre angemaßte Existenz auf unsere Kosten nährt: "Was äffst Du nach mein Liebesleid, / das mich gequält an dieser Stelle (...), so lässt Heine das lyrische Ich in seinem "Doppelgänger" weiter klagen. Und Schubert verleiht dem in seiner Heine-Vertonung kongenial Ausdruck, indem er sein Lied geradezu mechanisch über einem sich permanent selbst kopierenden Muster von vier fahlen Akkorden abspulen lässt. Doch nicht nur bei Heine, durch die gesamte Literatur des 19. Jahrhunderts zieht sich das Motiv jenes erschreckenden, häufig im Wahnsinn oder im Selbstmord endenden Zusammentreffens mit einem eigenen Ich, das nicht sein darf, weil es nicht sein kann: Poes "William Wilson", mehrere Novellen bei E.T.A. Hoffmann oder Dostojewskis "Doppelgänger" - die hier verkörperte Angst hat die Literaten reichlich umgetrieben. So verwundert es nicht, dass der große Erforscher des menschlichen Seelenlebens am Anfang des 20. Jahrhunderts sich gerade auf diese literarische Tradition bezog: 1919 veröffentlichte Sigmund Freud eine Studie über "Das Unheimliche", in der er seine Theorie an Hoffmanns Novelle "Der Sandmann" - mit den Figuren der mechanischen Wiedergängerin Olimpia und des Kinderaugen raubenden Brillenhändlers Coppola - darlegte. Das "Unheimliche" definiert Freud hier als "jene Art des Schreckhaften, die auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht". Der Doppelgänger, das sei jener uns fremd gewordene, "verdrängte" Teil unseres Ich, der nun als Schreckbild in unserer eigenen Gestalt vor uns hinträte.

Wenn es eine in Freuds Sinne "unheimliche" Oper in der Geschichte des Genres gibt, dann ist das sicher Michel van der Aas "One": In einem kalten, dunklen Raum versucht eine Frau Licht in ihre eigene Existenz zu bringen; mit einer Taschenlampe erhellt sie mühsam und vorübergehend Ausschnitte ihrer selbst. Sie setzt sich an einen Tisch, den sie nach und nach ausrichtet, bis sie in Position und Sitzhaltung ihr "lebendiges" Abbild, eine Filmaufnahme derselben Szene, auf einer Leinwand hinter sich verdoppelt. Ihrem alter ego räumlich stets abgewandt, verhaken sich doch die Gesangspartie, die live gesungen wird, und die vom Band eingespielte zu einem hysterischen Staccato, das textlich und musikalisch stets dieselben Tonhöhen und Textmodule repetiert. "A buried pattern inside me", das ist der Gedanke in dem die Frau ausweglos befangen bleibt. Entsprechend besteht ihre einzige Handlung im zwanghaften Zerbrechen von Zweigen, deren exakte Zahl sie akribisch dokumentiert und von denen sie stets einige Exemplare in Einmachgläsern konserviert. Das "Bühnenbild" dieser minimalistischen Oper besteht fast nur aus diesen in Regalen aufgestapelten Memorabilien, die den Lebensraum der Frau rings umstellen, wie die Wände einer Zelle. Bald erscheinen auf der Leinwand Interviewausschnitte von fünf alten Frauen. Sie erzählen alle eine Geschichte, mit all jene Abwandlungen im Detail, die das Erzählen aus dem Gedächtnis für gewöhnlich mit sich bringt. Es multipliziert sich so nicht nur ihre Geschichte, die Geschichte selber verdoppelt die Szenerie auf der Bühne. Eine Art multimediales und multiperspektivisches Puzzle entsteht. Der verdrängte Teil des Ich, die Angst der Protagonistin vor Verfall und Tod, erscheint schließlich leibhaftig und virtuell, auf der Bühne und der Leinwand, in ihrem Kostüm, mit ihrer Frisur, aber um vier Jahrzehnte gealtert. Dieser mütterliche Tod hält der Sopranistin die Augen zu; sie versucht den Arm zu zerbrechen, wie sie zuvor Hunderte von Zweigen zerbrochen hatte - und schafft es doch nicht.

Die Protagonistin von van der Aas Monodram bleibt in der Welt ihrer Gedanken befangen, was an "Realität" um sie herum ist, sind lediglich variable Spieglungen ihrer selbst. Sucht man nach den historischen Modellen für diese Opernkonzeption van der Aas, führt der Weg unmittelbar zum expressionistischen Musiktheater. In seinem Monodram "Erwartung" (1909) hatte Arnold Schönberg das Modell für einen solches ausschließlich auf den inneren Monolog nur einer Protagonisten gegründetes Musiktheater geschaffen. Hier ist es eine Frau auf der Suche nach ihrem (von ihr selbst ermordeten?) Geliebten, die durch einen nächtlichen Wald irrt. Unmittelbar im Anschluss daran schrieb Schönberg ein weiteres Monodram, "Die glückliche Hand" (1910 - 1913), in der er aus seiner Grundidee nun auch für die Technik des Theaters die radikalste Konsequenz zog. Die Szenerie der "Glücklichen Hand" ist lediglich noch eine Projektion der Gedankenwelt des Protagonisten; andere Personen treten nur als stumme Rollen, quasi als Erinnerungsbilder auf; der Bühnenraum selber wird symbolisch, oben steht alles, was dem Mann unerreichbar bleibt; der Chor schließlich artikuliert den vielstimmig aufgespaltenen inneren Monolog des Mannes, die Choristen schauen dabei durch Löcher in den Hinter- und Seitenwänden auf die Bühne, die somit buchstäblich zum Ort der Introspektion wird. In dieser auf die Bühne gestellten radikalen Selbsterforschung formuliert Schönberg mit den Mittel des Musiktheaters, was sein Zeitgenosse Freud zum Gegenstand methodischer Forschung machte. Dass Freud dabei von der Psychoanalyse eines individuellen Seelenlebens zu einer erweiterten Kulturtheorie voranschritt, hatte unmittelbar mit der Erschütterung durch das mechanische, industriell gewordene Massentöten des Ersten Weltkriegs zu tun. In Verdun hatte vor allem die Maschinenwelt über den Menschen gesiegt, und Freud verstand seine Kulturtheorie auch als Selbstaufklärung des Menschen über jene Antriebe (Eros und Thanatos), die ihm schließlich in Form seiner eigenen, autonom und übermächtig gewordenen Schöpfungen gegenübertreten.

Die wesentliche Eigenschaft des Künstlers (Komponisten, Textdichters und Filmemachers) Michel van der Aa ist, dass er diese Grunderfahrung des modernen Menschen mit den Apparaten des Medienzeitalters ausdrückt. Van der Aa hat eben nicht nur eine klassische Komponistenausbildung u.a. bei Louis Andriessen genossen, mindestens ebenso wichtig sind die Ausbildung zum Tonmeister und sein Regie-Studium an der New York Film Academy. Bei ihm ist nun auch die Person des Komponisten voll im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit angekommen, und seine Musik ist vielfach mehr von technischen Prozeduren bestimmt als von klassischem musikalischen Handwerk. Die Doppelgängeridee zieht sich dabei wie ein roter Faden durch van der Aas Œuvre: Seine Stücke tragen Titel wie "Second Self" oder "Double", und fast alle seine Werke enthalten einen Soundtrack, der der live gespielten Musik ihrer technische Reproduktion unmittelbar gegenüberstellt. Die offenbar intensiv betrieben Selbststilisierung des Medienkünstlers van der Aa reicht dabei bis in die Details seines öffentlichen Auftritts: Ein offizielles Künstlerfoto zeigt ihn, wie er sich sein Gesicht vom Kopf zieht gleich einer Maske, unter der ein zweites Gesicht zum Vorschein kommt. Und selbst den eigentümlichen Doppelvokal des eigenen Nachnamens hat er für die Internetadresse seiner Website sinnreich zu nutzen gewusst: www.doubleA.net. Hinter der Obsession für das Doppelgängermotiv steht offenbar van der Aas Reflektion über die Selbstentfremdung des Menschen in der medial vermittelten Welt: In zweiten Teil "Here [in circles]" seines ebenfalls für Barbara Hannigan geschriebenen dreiteiligen "Here"-Zyklus etwa reduziert sich die Rolle der "Sängerin" bezeichnenderweise darauf, ein Tonband zu bedienen, das die Musik des Live-Ensembles buchstäblich einfängt, um sie vorwärts, rückwärts und in wechselnden Geschwindigkeiten im akustischen Hamsterrad laufen zu lassen. Und in seinem jüngsten Musiktheaterprojekt mit dem doppeldeutigen Namen "After Life" (post mortem bzw. "nach dem Leben gemalt") zappt sich eine Reihe gerade Verstorbener durch die gesampleten Fetzen ihrer Existenz auf der Suche nach deren entscheidendem Moment - sie finden ihn nicht, und bleiben im Limbo hängen; der Vorhölle, die bei Dante der Aufenthalt all jener ist, die ohne eigenes Verschulden unerlöst bleiben müssen. So wuchern die Abbilder, bis die Wirklichkeit nur noch als Schatten ihrer selbst erscheint.

Die Musik zu "One" spiegelt sowohl die Vorliebe van der Aas für technische Verfahren als auch den Solipzismus der Protagonistin. Wie meist in van der Aas Stücken ist das Material äußerst begrenzt; Text und Musik kreisen, technisch gesprochen, in immer denselben Loops. Die Vokalpartie erinnert dabei mehr an ein maschinelles Staccato als an Gesang im eigentlichen Sinne. Und wo es überhaupt zu Harmonie, also zu voll klingender Mehrstimmigkeit kommt, sind diese "chorischen" Klänge doch nichts anderes als die auf technischem Wege multiplizierte Stimme der einen Sängerin. Auf der akustischen wie auf der visuellen Ebene hat die Hauptfigur es eigentlich immer nur mit den Echos ihrer selbst zu tun. Die deutlich hörbar eingesetzten Vor- und Rückspultasten heben dabei den kontinuierlichen Zeitverlauf auf, pressen lange Strecken in Sekunden oder schicken die Protagonistin auf ihrer Suche nach sich selbst zig Mal wieder über "Los". Und Oscar Wildes manieristischer Wahlspruch, vom Leben, das die Kunst nachahmt, wird vollends bestätigt, wenn die Sopranistin ihre Stimme einsetzt, um technische Geräusche zu kopieren. Einen Ausweg aus der endlosen Redundanz der Selbstbespiegelung deutet van der Aa an, wenn die Protagonistin sich schließlich überwindet, ihrem alter ego nicht mehr den Rücken zuzudrehen. Es ist dieser Ausbruch aus ihren festgefahrenen Handlungsmustern, der den Weg öffnet zu einem Schlusswort, das ebenso Kränkung ihres Narzissmus wie Erlösung von seinen Fesseln bedeutet.