Ilja Stephan Musikpublizist

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Jörn Arnecke - "Ich frage mich oft, ob wir nicht viel zu nett sind"
in: Die Welt, 4.8.2004, Hamburg-Teil, S. 38.

Das Werkverzeichnis, das mir vorliegt, beginnt 1996. Hast Du irgendwann für Dich einen Nullpunkt gesetzt?
Arnecke: Nein, es gibt auch frühere Stücke, die ich noch akzeptiere, ich habe auch keine alten Stücke weggeworfen. Aber natürlich hängt man an Stücken unterschiedlich stark; bei Stücken, die "Stücke auf dem Weg" sind, habe ich schon eine gewisse Distanz und würde heute vieles anders machen - trotzdem ist manches auch wieder ganz anrührend für mich, wie ich in einer früheren Situation Sachen gesehen hab. Einen Nullpunkt zu setzen, würde ja bedeuten, dass ich jetzt weiß, es ist schon 1 - oder doch mindestens 0,1. Jedes Stück ist ein Teil einer Entwicklung, und die Stücke, die ich jetzt schreibe sind es immer noch.

Soweit ich sehe, sind alle Deine Werke sujetgebunden und haben Titel wie "Frage", "Folie", "Einsamer Gesang" etc. Wie wichtig sind solche außermusikalischen Vorwürfe für Dich?
Arnecke: Für mich ist das ein Ansatzpunkt, wie gehe ich an das Stück heran. Was macht es notwendig, dass dieses Stück geschrieben wird. - Ich bin nicht der Meinung, dass ein Auftrag alleine schon reicht, damit ein Stück geschrieben wird. Es soll ja auch für mich einen Sinn machen. Wenn ich weiß, ich schreibe ein Stück für die Besetzung X, steht ganz oft am Anfang, dass ich versuche mir darüber klar zu werden, was das Stück als Ganzes für einen Kern haben soll. Und darüber kommen dann oft schon außermusikalische oder sujetgebunden musikalische Ideen hinein. Bei "Einsamer Gesang" z.B. ist es die Frage, was ist eigentlich Melodie für uns heute. Oder "Schwebend" für Harfe solo - Schwebung ist je etwas Physikalisches, aber auch etwas Atmosphärisches, da geht es darum, wie man das in einem Stück zusammenbringt.

Mit solchen Doppelbedeutungen und Assoziationen spielst Du offenbar gerne, ich denke z.B. an "Folie" für Orchester.
Arnecke: "Folie" ist auch ein schönes Beispiel. ("Folie" bedeutet im Französischen "Verrücktheit". Im Deutschen bezeichnet das Wort ein ausgewalztes Stück Metall oder Kunststoff. Und die Italiener bezeichnen ein barockes Bassmodell als "Follia-Bass"; d. Red.) So könnte man viele Begriffe nehmen: "In Stille" für Streichquartett behandelt die Frage ,Was ist Stille' - das hat ja nicht nur mich beschäftigt. Oder "Kreuzspiel" für Flöte solo - allerdings habe ich das während meiner Studienzeit geschrieben und erst danach erfahren, das es von Stockhausen ist. Für mich sind das erst mal Vorstellungshilfen und oft wird dann auch der Titel daraus. Ich denke, auch für das Publikum ist es eine Hilfe, zumindest schon mal ein Zugang, dass man mit dem Titel etwas verbindet. Und es sind keine abstrakten Titel wie "Komposition 9" oder "Stück 18", sondern es gibt eine gewisse Poetik. Ich erlebe es oft, wenn ich in einer Ausstellung bin, dass ich mir eine Skulptur ansehe, dabei etwas empfinde, hingehe um zu gucken, wie es eigentlich heißt, weil ich einen Zugriff des Künstlers möchte, und dann steht da nur "Ohne Titel". Da bin ich regelmäßig enttäuscht - das möchte ich anders machen bei meinen Sachen.

Das klingt, als hättest Du eine sehr reflektierte Herangehensweise beim Komponieren?
Arnecke: Ja, das ist oft auch so, das ich z.B. erst die Form baue. Aber die Klänge sind dann für den Fluss des Komponierens sehr, sehr wichtig. Ich baue auch regelmäßig Klangfolgen für mich auf, spektrale Klangorganisationen, die lenken das Komponieren schon sehr direkt. Es ist selten, dass ich denke: "Mensch dieser Klang, das schreibe ich jetzt ein Stück drüber." Z.B. habe ich jetzt ein Cello-Solostück geschrieben, das heißt "Dreifacher Klang" - da geht es um die Frage ,Was ist eigentlich Dreiklang'. Daraus soll ein großer Zyklus werden; es gibt "Dreifacher Klang", "Zwiefacher Klang", "Einsamer Gesang", und irgendwann wird noch mal "Vier..." kommen. Bei "Dreifacher Klang" gibt es schon so eine Art von Akkordfolge, die das ganze Stücke hindurch "ausgewrungen" wird. Dort wäre also ein Klang der Ausgangspunkt, trotzdem ist es zugleich auch eine formale, prozesshafte Vorstellung.

Du hast bisher sechs Bühnenwerke geschrieben, zumeist mit der Gattungsbezeichnung "Musiktheater". Warum meidest Du den Begriff Oper?
Arnecke: Ob man so etwas Oper nennen darf, oder nicht, ist ein theoretischer Kampf, der inzwischen gar nicht mehr aktuell ist. Ich glaube rückblickend, dass "Das Fest im Meer" tatsächlich eine Kammeroper ist, Punkt. Der Begriff "Musiktheater" ist für mich offener, wenn z.B. sich die Musiker auf der Bühne bewegen, oder ich besondere Raumsituationen vorschreibe, dann lässt sich das mit dem alten Opernbegriff nicht so ganz in Einklang bringen. Gerade diese Trennung von Bühne, Graben, Publikum ist für mich sehr verbunden mit der Oper, und genau das möchte ich nicht.

Wie sind die Möglichkeiten heute für einen jungen Komponisten, seine Musik adäquat aufgeführt zu bekommen?
Arnecke: Das ist ganz unterschiedlich, es gibt ja sehr verschiedene Möglichkeiten, wie man an Aufführungen kommt. Die erste ist, dass man die Musiker persönlich kennt, und wenn es sich dann um klein besetzte Stücke handelt, hat man sehr oft auch die Möglichkeit persönlich und sehr intensiv mit ihnen daran zu arbeiten. Da kann man davon ausgehen, dass man sich einbringen kann und am Ende eine Aufführung steht, mit der man oft auch sehr glücklich ist. Dann gibt es professionelle kleiner Ensembles, die natürlich eine begrenzte Probenzeit haben, aber dafür oft einen sehr großen Einsatz. Und gibt es Orchester, die eine noch begrenztere Probenzeit haben, und wo man je nach Orchester davon ausgehen muss, dass das Stück auch nur in dieser Probenzeit abgehandelt wird. - Man sollte gar nicht darüber klagen, das liegt in der Natur der Sache. Natürlich sind die wenigen Proben bei groß besetzen Stücken eine Schwierigkeit. Das Schlimme ist, das man das immer im Hinterkopf hat; man weiß, dass die Zeit begrenzt ist und man möchte ein gutes Ergebnis haben. Die Gefahr ist, dass man sich zu sehr davon leiten lässt, Sachen zu schreiben, die in drei Orchesterproben zu realisieren sind. Von (meinem Lehrer) Grisey gibt es einen sehr treffenden Spruch dazu: "Je mehr Musiker man hat, umso weniger Proben hat man."

Es ginge auch ohne Musiker. Du warst Mitarbeiter am IRCAM, trotzdem gibt es nur ein elektroakustisches Stück von dir?
Arnecke: Ich habe das in Paris ein Jahr lang relativ intensiv betrieben, Elektroakustik war Teil des Studienprogramms - daher stammt auch das Stück. Danach habe ich es nicht mehr gemacht, will aber auch nicht ausschließen, dass ich es noch mal mache. Inzwischen habe ich allerdings den technischen Anschluss verloren, das geht auf dem Feld rasend schnell. Ich habe es damals als sehr wichtig empfunden für eine andere Zeitvorstellung, weil wirklich davon wegkommt in Drei- und Viervierteltakten zu denken. Es geht nur noch um den Fluss in Sekunden; das ist zwar auch ein Zeitraster, aber eben ein anderes. Die andere wichtige Erfahrung war, dass man nie so viel mit den Ohren kontrolliert, als wenn man elektroakustisch arbeitet. Man verarbeitet etwas und hört es sich immer wieder an, das ist ganz anders als beim Komponieren, wo man stets mit dem inneren aber eben nicht mit dem äußeren Ohr vergleicht. Dies waren beides sehr wichtige Erfahrungen, aber danach habe ich es wieder abgelegt. - Was mich ein bisschen stört, ist, wenn der Aufbau, das Verkabeln, Beseitigen der Summtöne etc., länger dauert als das Stück selbst.

Wie lebst Du eigentlich damit, dass Komponisten "ernster Musik" sich heute in einer durch Fördermittel künstlich geschaffenen Hochkultur-Luftblase bewegen?
Arnecke: "Luftblase" ist gut. Das mit dem aus Subventionen geschaffenen Raum ist wahr. Der Hindemith-Preis ist auch von einer Stiftung, das Orchester wird vom Festival getragen, das wiederum subventioniert ist. Selbst wenn die Hamburger Symphoniker ein Stück von mir spielen, sind auch die wieder subventioniert. Das geht heute gar nicht mehr anders. Eine Massenverbreitung muss man nicht wollen und soll man nicht wollen. Damit ist dann aber auch gesagt, dass man auf eine Kunstförderung, sei es von privater oder öffentlicher Seite, immer angewiesen ist. Das finde ich auch nicht anrüchig, sondern das heißt nur, dass wir uns, wenn wir etwas Neues wagen wollen, nicht den Gesetzen des Marktes unterordnen, sonst hätten wir amerikanische Verhältnisse.

Was wäre so schlimm daran, wenn Komponisten sich durchsetzen müssten?
Arnecke: Ein System, das verlangt, dass die Komponisten sich durchsetzen müssen, verlangt danach, dass sie etwas schreiben, was nicht ihre eigene Meinung ist. Am Markt setzt sich etwas durch, was als Produkt geschaffen wird und dann immer weiter dieses Produkt sein muss. Kunst muss immer anders sein. Dabei können die Marktgesetze nicht helfen. Was ich aber wichtig finde, ist, dass ein Komponist die Notwendigkeit für sich selbst sieht, mit dem Publikum zu sprechen. Ich erlebe es ganz oft, wenn man Einführungen hält und in den Pausen oder danach mit den Leuten spricht, dass das wirklich ganz erfrischend ist. Eine Einführung, das Zurkenntnisnehmen, dass das wirklich ein Mensch ist, der das geschrieben hat, der sich bei seinem Stück etwas gedacht hat - dass es nicht bloß ein sachliches Objekt ist, das irgendwie aufs Programm gerutscht ist -, das ist fürs Publikum ein wichtiger Schritt, um sich auf das Stück einzulassen. Den Schritt aufs Publikum zu, den soll man auf jeden Fall machen, aber von sich aus und nicht irgendwelcher Marktgesetze wegen, die genauso für Mcdonald's angesetzt werden wie für zeitgenössische Musik.

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Hindemith Preis
Mit dem Hindemith-Preis bist Du in Gesellschaft z.B. von Matthias Pintscher, Jörg Widmann, Rebecca Saunders oder Thomas Adès. Worin besteht der besondere Beitrag der jungen Komponistengeneration, was zeichnet sie aus?
Arnecke: Bei Adès würde jeder sagen, wieder Melos und das Konventionelle in die Musik zurückgeholt zu haben. Das würde ich gerne mal beiseite lassen. Ich glaube, Pintscher und Widmann, die sehr, sehr unterschiedliche Musik schreiben, ist gemeinsam, dass sie eine ganz große Wärme und positiv verstandene Musikalität in ihren Stücken haben. Einen Melos, ohne platte Hülsen zu wiederholen. Ich hoffe, das ich in der Richtung auch tätig bin. Ich wäre froh, wenn das der Beitrag einer Generation ist, dass man zwar eine Poesie wieder in die Musik bekommt, aber nicht indem man die alten, als bewährt erwiesen Tricks wieder anwendet, sondern indem man eine ganz differenzierte und subtile ..., ja, Herzlichkeit wieder in die Musik bekommt.

Wo bleibt eigentlich die Abrechnung der um die 30-Jährigen mit der Generation der künstlerischen Vaterfiguren?
Arnecke: Ich frage mich auch oft, ob wir nicht viel zu nett sind. Denn wir huldigen allem: Wir schätzen natürlich die Musik der großen klassischen Komponisten von Monteverdi bis Wagner; wir sagen, dass auch die erste Hälfte der 20. Jahrhunderts großartige Komponisten hervorgebracht hat - was ja auch stimmt; und die Nachkriegsgeneration - die ja das Musikleben sehr stark verändert hat, und die viele der Probleme, die wir mit zeitgenössischer Musik haben, sehr verstärkt hat - wird positiv bis heldenhaft gesehen. Da frage ich mich, ob nicht die Generationenabrechnung kommen müsste. Man sieht das inzwischen ja differenzierter und würdigt auch die großen Beiträge zu einer Auffächerung und Erweiterung der musikalischen Sprachmittel, die die Nachkriegsgeneration geleistet hat. Aber wenn wir noch mal auf die Frage kommen, was das Publikum davon hat; dieses Problem haben wir sehr viel stärker durch das, was die vorangehende Generation uns hinterlassen hat.

Worin also bestünde die Antwort auf diese Herausforderung?
Arnecke: Der Weg vom Abstrakten zurück ins Poetische, das wäre der Weg, den diese Generation gemeinsam geht. Das Melos ist das Verbindende.

So etwas wie das lange Unisono am Ende Deines ersten Streichquartetts?
Arnecke: Dieses Unisono ist immerhin schattiert, weil es durchbrochen wird und immer andere Instrumente zusammenspielen, da sind vielleicht mal drei Töne in Folge gleich. Es ist nicht nur so hingeschrieben, sondern bei dieser einfachen und auffälligen Idee gibt es schon eine Differenzierung. Innerhalb der Melodie ist durch immer neue Kombinationen der Instrumente jeder Ton etwas anders.

Um bei der Frage nach zeitgemäßer Musik zu bleiben, Pop- und Rock-Musik interessieren Dich offenbar gar nicht. Wird die Musik unserer Zeit nicht eher von einer Stratocaster als von einem Streichquartett gemacht?
Arnecke: Ich würde nicht sagen, dass es mich nicht interessiert; vielleicht bin ich noch nicht so weit (lacht). Ich denke doch sehr in den Kategorien des klassischen Konzertlebens, weil mich Popmusik lange tatsächlich nicht interessiert hat. Ich beginne langsam, mir das anzueignen. Aber die Idee, das nur zu machen, weil es gerade Mode ist - man macht mal so ein bisschen Crossover - oder weil man sich unter diesem Vorwand irgendetwas Simples, Eingängiges, was sich besser verkauft, einholt, das kann nicht der Sinn von Kunst sein.

Bringen nicht Pop und Rock das Lebensgefühl unserer Zeit viel eher zum Ausdruck?
Arnecke: Ich hatte irgendwann nach sehr langer Zeit noch mal Nenas "99 Luftballons" gehört. Natürlich lacht man heute darüber, aber ich habe mir gedacht: "Meine Güte, das ist schon das Lebensgefühl der 80er-Jahre." Das ist dieser naive Glaube, wir alle können zusammen den Atomkrieg verhindern. Das ist sehr schön, sehr idealistisch, aber auch sehr naiv. Die Furcht vor der großen Katastrophe und die Sehnsucht nach einer heilen Welt, das waren die 80er-Jahre. Ich habe mich gefragt, welche Stücke der zeitgenössischen Musik bilden dieses Lebensgefühl ab, und ich bin da nicht weit gekommen. Das hat mich schon zum Nachdenken gebracht, aber vielleicht muss es nicht immer auf so direkte Weise geschehen. - Übrigens gibt es auch bei mir Stücke, wo die Leute eine E-Gitarre in der Hand haben.

Rebellion oder Aggressivität drücken sich wohl auch eher im Klang einer verzerrten Gitarre aus.
Arnecke: Ich verstehe, was damit gemeint ist, diese Rebellion. Aber sind wir denn Rebellen, wir als Menschen? Insofern entspricht doch die Bravheit der Komponisten, der Bravheit unserer Generation (lacht). Ich gebe Dir recht, dass wir eigentlich viel zu brav sind. Ich will im Moment auch sehr raus aus dieser Zelle. Ich glaube, das neue Stück für die Staatsoper ist ein Schritt darauf zu, weil ich da doch ziemlich draufhaue. Diese lyrisch-poetische Ecke, die hatte ich nun schon oft - ich kann das gut, weil ich das auch vom Typ her eher bin. Aber um sich weiterzuentwickeln, muss man was anderes machen, und dass muss genau in diese Richtung gehen. Das habe ich zwar von meinem Bewusstsein her schon verankert, aber ich habe (bis dato) noch kein Stück anzubieten, bei dem ich das gezeigt habe.

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