Ilja Stephan Musikpublizist

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Maurizio Pollini - Grandseigneur der Pianistenzunft
in: Hamburger Abendblatt, 10.05.2016

Seine Hörer mit Politik zu behelligen, wenn sie doch Musik hören wollten, war einmal eine Spezialität von Maurizio Pollini. Statt Klavier zu spielen, soll der junge Pollini vom Podium herunter gegen den Vietnamkrieg gewettert haben. Gemessen daran fiel der Auftakt zu Pollinis erstem Hamburg-Gastspiel seit neun Jahren am Montag in der ausverkauften Laeiszhalle eher harmlos aus. Weil Freiheit das Motto des Internationalen Musikfestes Hamburg ist, ließen die Organisatoren, bevor der Pianist auftrat, einen kurzen Text zum Thema vom Band einspielen. Dass einige, wenige Konzertbesucher eine Rede über die Freiheit mit Buhrufen quittierten, ist unglaublich, aber leider wahr.

Der Grandseigneur der Pianistenzunft selbst enthielt sich aller politischen Kundgebungen, ansonsten aber ist Pollini wieder ganz der Alte. Die schwere Krise, die man bei seinem Auftritt in Lübeck vor einem Jahr erahnen konnte, scheint überwunden. Nun meldete Pollini sich mit seinem Kernrepertoire zurück. Auf dem Programm standen Schumanns Fantasie C-Dur und Allegro h-Moll sowie die Barcarolle, die Berceuse, zwei Nocturnes und die Polonaise As-Dur von Chopin. Im Andenken an Pierre Boulez hatte der Vorkämpfer der Moderne außerdem die Sechs Klavierstücke op. 19 von Arnold Schönberg unter die Romantiker gemogelt.

An Pollinis Lesart von Schönbergs hochverdichteten Musikkonzentraten ließ sich am deutlichsten ablesen, was das Spiel dieses Pianisten ausmacht: Alles Wesentliche liegt für Pollini in den Noten. Deren exakte Ausführung birgt das ganze Geheimnis der Musik. Ein Pollini schauspielert nicht, weder mit Gesten noch mit Tönen. Er schmachtet nicht, er tändelt nicht, er wirft sich nicht in die Brust. Er führt aus, was in den Noten steht, zupackend, souverän und planvoll. Klänge es nicht so nach einem Mangel an Gefühl, müsste man Pollinis Stil objektiv nennen.

Doch strukturelle Klarheit und Emotion sind bei Pollini keine Gegensätze, eines bedingt vielmehr das andere. Schumanns Fantasie war bei Pollini so voller ekstatischer Momente, in denen die Musik förmlich abzuheben schien. Und wer Chopins Berceuse bislang nur für ein sentimentales Salonstück gehalten haben sollte, dem enthüllte sie sich in Pollinis Lesart als von Zärtlichkeit erfüllte, kunstvolle Variation.

Wer Aufnahmen von Pollini als Schätze in seinem Plattenschrank hütet, der erkannt auch an diesem Abend all die Qualitäten seines Spiels wieder. Altersweisheit ist Pollinis Sache nach wie vor nicht, sein zupackender, brillanter Stil ist geblieben. Doch wer Pollini als absoluten Perfektionisten erinnerte, der musste an diesem Abend Abstriche machen; im zweiten Satz von Schumanns Fantasie etwa wurde hörbar, dass selbst einem Pollini heute technische Grenzen gesetzt sind.

Mit der „Revolutionsetüde“ von Chopin als erster Zugabe blies Pollini diese Bedenken hinweg. Hier war alles zu hören, was diesen großen Pianisten ausmacht, Brillanz, Klarheit und die Leidenschaft eines engagierten Künstlers. Im Anschluss an Chopins erste Ballade schließlich erhob sich das Publikum zu Standing Ovations.