Ilja Stephan Musikpublizist

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Nigel Kennedy - Falsches Spiel mit Vivaldi
in: Hamburger Abendblatt, 09.03.2016

Wenn Beziehungen allzu lange allzu konfliktreich sind, nehmen sie bisweilen eine fatale Wendung. Betroffen liest man dann in den Polizeimeldungen vom grausigen Ende dessen, was einstmals Liebe war. Nigel Kennedy verbindet seit 27 Jahren eine feste Liaison mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“; 1989 katapultierte ihn seine Einspielung dieser Concerti zum Weltruhm. Hunderte Male muss Kennedy seine Paradestücke seither auf allen Podien dieser Welt gegeigt haben. Und urteilt man nach dem, was der britische Violin-Punk unter Tatbeteiligung der Russischen Philharmonie St. Petersburg am Montag in der Laeiszhalle zum Besten gab, wird es in dieser Beziehung schon lange gekriselt haben.

Gäbe es nämlich in der Kunst ein Strafrecht, müsste man die Art, wie Kennedy Vivaldis Musik zersägt und zersäbelt, um ihre geschundenen Reste anschließend durch den Wolf zu drehen, als Kapitalverbrechen werten. Nicht dass er Vivaldi bearbeitet, wäre dabei justiziabel, sondern wie. Für seine Splatterversion bricht Kennedy die Musik auf, zerlegt sie durch willkürliche Pausen, abstruse Tempowechsel, Einschübe und Intros, deren einzige Motivation der demonstrative Stilbruch zu sein scheint. Dass „Nigel the Ripper“ bei all dem auch noch allzu häufig mörderisch falsch geigt, rundet sein Täterprofil ab.

Nun ist die Kunst Gott sei Dank nur ein Spiel, und über Geschmack lässt sich streiten. Was für Menschen, die Vivaldi lieben, einem Verbrechen gleichkommt, ist für Menschen, die Nigel Kennedy lieben, offenbar eine Mordsgaudi. Man könnte es dabei bewenden lassen, wäre der Künstler Kennedy nicht selbst sein schärfster Kritiker. Denn gibt sie noch, die großen, innigen Nigel-Kennedy-Momente, in denen alles affektierte Punk-Gehabe von ihm abfällt und ein authentischer Musiker zum Vorschein kommt, dessen Spiel selbst Skeptiker in seinen Bann schlagen kann.

In solchen Momenten gleicht der Geiger dann eher einem traurigen Clown, der Bach längst nicht mehr makellos, aber immer noch so spielen kann, dass man hört, wie sehr er diese Musik liebt. Oder man erlebt ihn beschwingt und kollegial den Jazzern in seiner Combo lauschen und nach Maßgabe seiner Möglichkeiten ein Solo beisteuern. Genau diese Momente sind es, die den ganzen Rest des Kennedy-Zirkus Lügen strafen.

Es gab mal eine Zeit, da war Kennedys Attitüde das richtige Mittel, um frischen Wind in die Klassikszene zu bringen. Da konnte man ihn als fröhlichen Barbaren und lauter überzivilisierten Mumien sehen. Doch inzwischen ist er nur noch ein 59 Jahre alter Mann, der sich auf der Bühne gebärdet, als wäre er ein 15-jähriger, pubertierender Jugendlicher. Gefühlte 100 Mal müssen die ansonsten zu Musikzulieferern degradierten Kollegen aus dem Kammerorchester beim fist bump ihres Bandleaders mitspielen. Und auch ein Spruch über Fußball darf natürlich nicht fehlen. Kennedy ist zu seinem eigenen Klischee verkommen, genauso konventionell und im Kern altbacken wie die Musik seiner in der ersten Konzerthälfte zu hörenden Eigenkomposition „Dedications“, in der lediglich diverse Stilversatzstücke aneinandergereiht werden.

So bleibt für Kennedy-Fans der ersten Stunde und Vivaldi-Fans gleichermaßen wohl nur eines: Die CD von damals wieder aus dem Regal ziehen und wehmütig anstaunen wie ein altes Hochzeitsfoto aus der Zeit als die Liebe noch jung und die Frechheit noch echt waren.