Ilja Stephan Musikpublizist

Themen

Komponisten

Interpreten

Ostasien

Hamburg

Ott/Tristano - Skandale zum Mitklatschen
in: Hamburger Abendblatt, 10.08.2015

Was für Zeiten, was für Sitten! Es war ein denkwürdiger Höhepunkt des Abends, als Alice Sara Ott am Sonnabend im Lokschuppen der S-Bahn von ihrem Steinway-Flügel aufsprang und das Publikum zum Mitklatschen animierte. Während ihr Pianopartner Francesco Tristano an seinem Yamaha clubmäßig groovte, gab die zierliche Deutsch-Japanerin dem Publikum den Takt vor, und das tat ebenso eifrig wie freudig mit.

Dabei standen die Zeichen eigentlich auf Sturm: „Scandale“ hieß das Programm, in dem Tristano und Ott auf zwei Klavieren Werke spielten, von denen einige einmal so radikal, neu und umstürzlerisch waren, dass sie als Reaktion vor allem Empörung hervorriefen. Neben Strawinskys „Le sacre du printemps“ standen Ravels „Bolero“ und „La valse“, zwei Nocturnes von Debussy sowie eine Eigenkomposition des Techno-affinen Genregrenzgängers Tristano auf dem Spielzettel.

Diese Zusammenstellung gibt durchaus Anlass zur Skepsis. Denn von seinem „Bolero“ sagte Ravel, das nur aus Rhythmus und Wiederholungen bestehende Stück enthalte eigentlich gar keine Musik. Es sind die genial eingesetzten Orchesterklangfarben, denen der „Bolero“ einen Gutteil seiner unverwüstlichen Wirkung verdankt. Was aber bleibt von einem solchen Stück im Klavierauszug? Die erste, erstaunliche Entdeckung des Abends war, dass der „Bolero“ auch auf zwei Klavieren funktionieren kann. Tristanos Bearbeitung schöpfte dazu die Klangmöglichkeiten der Klaviere vom perkussiven Trommelton bis zur Erdbebenkatastrophe voll aus.

Dabei waren die Aufgaben allerdings etwas ungalant verteilt, denn während Tristano den Rhythmuspart spielte, musste die rechte Hand von Alice Sara Ott mit jeder Umdrehung der Melodie mehr Tonmassen bewältigen, so dass man für ihre zarten Gelenke zu fürchten begann, und die Pianistin jede Pause nutzte, um sich die Anstrengung aus den Muskeln zu schütteln. Im Laufe von 15 Minuten schlug Quantität so in Qualität um, und die rhythmisierten Tontrauben, die Ott und Tristano am Ende mit Handflächen, Fäusten und Unterarmen in die Tasten droschen, erzeugten jenen Sog, der Ravels minimalistischen Geniestreich ausmacht.

Doch nicht alle Stücke des Abends funktionierten in der Pianofassung gleichermaßen gut. Vor allem Debussys Musik lebt von einem Reichtum der Zwischentöne und Schattierungen, den selbst zwei so gute Pianisten auf 176 Tasten nicht ohne Verluste nachbilden können. Und auch die exaltierte Walzerseligkeit von Ravels „La valse“, das wienerische, genießerisch-nachlässige Geigenportamento, oder das für Holzbläser gesetzte Vogelgezwitscher am Anfang von „Le sacre du printemps“ musste man sich aus der Erinnerung rekonstruieren.

Der massive Klavierklang vergröbert die Musik, er lässt sie kantiger und bisweilen brutaler wirken als in der orchestralen Technicolorfassung. So imponierten vor allem solche Stellen, die vom Rhythmus und vom schieren physischen Impakt leben: Strawinskys „Danse de la terre“ oder die zuckende Agonie im Opfertanz.

Eine echte Enttäuschung war dagegen Tristanos „A Soft Shell Groove Suite“. Hier war der Abstand zwischen dem im Titel des Abends formulierten Anspruch und der wohlgesitteten, PR-strategisch gut durchgeplanten Wirklichkeit mit Händen zu fassen. Tristano und Ott sind ein erzsympathisches, jüngst am Altar der Deutschen Grammophon verbandeltes Pianisten-Traumpaar. Sie spielt barfuß und er trägt T-Shirt, aber sonst gibt es von den beiden nichts zu fürchten. Im Gegenteil, wenn sie sich nach jedem Programmpunkt knuddeln oder über ihre in 69er-Stellung zusammengeschobenen Flügel hinweg Blicke und ein Lächeln zuwerfen, geht einem das Herz auf. Tristano verwendet in seiner Komposition Rhythmen aus dem Techno und bildet ansatzweise das Tranceerlebnis eines Clubbesuchs nach. Doch das erschüttert das Klassikpublikum von heute wirklich nicht mehr, es klatscht lieber mit.

Skandale, das sind Ereignisse, bei denen so rabiat gegen bestehende Regeln gesündigt wird, dass hinterher nichts mehr sein kann, wie es vorher war. Echte Skandale eröffnen einen Horizont neuer Möglichkeiten. Deshalb wird vor allem die Erinnerung an vergangene Skandale gehegt und gepflegt. Manche wurden geradezu unter Denkmalschutz gestellt. Wie viele Veranstaltungen gab es nicht zum 100. Jahrestag der Uraufführung von Strawinkys „Sacre“?

So war der Titel von Ott/Tristanos gemeinsamem Projekt klug und verkaufsfördernd gewählt. Doch bis auf einige intensive Momente bei Ravel und Strawinsky fiel die Wirklichkeit dieses „Skandal-Programms“ dann menschlich herzig, ob der schieren Virtuosität und Lautstärke häufig Staunen erregend und im Kern doch harmlos aus. Skandale zum Mitklatschen? O tempora, o mores!