Hélène Grimaud - Wie man am Klavier erfolgreich baden geht
in: Hamburger Abendblatt, 10.06.2015
Hélène Grimaud gilt als heikel. Dass sie Konzerte absagt, kommt öfter vor als es Publikum und Veranstalter lieb sein kann. Und wenn sie kommt, gewinnt man leicht den Eindruck einer hypersensiblen Künstlerin, um deren inneres Gleichgewicht man bangen muss. Doch mit ihrem Solo-Recital am Montag im Großen Saal der Laeiszhalle belehrte die französische Pianistin alle Skeptiker eines Besseren: Feine Sensibilität und Aplomb, Zerbrechlichkeit und Kraft gehören bei ihr zusammen; die Verbindung dieser Qualitäten ist das besondere Merkmal dieser Künstlerin.
Vereinfacht gesagt widmete Grimaud den entgegengesetzten Polen ihres Wesens je eine Konzerthälfte. Den Anfang machte eine Meditation über das Thema Wasser. Aus Werken von Berio, Takemitsu, Frauré, Ravel, Albéniz, Liszt, Janácek und Debussy hatte Grimaud einen Strom von Musik zusammengestellt, der 45 Minuten lang ohne Pausen stetig floss, in unzähligen Farben schillerte, sanft rieselte und dann wieder mächtig anschwoll und dabei eine geradezu hypnotische Wirkung entfaltete. Wo ein Werk aufhörte und das andere begann, war da nach einer Weile nur noch mit Mühe auszumachen. Tatsächlich störte schon der bloße Versuch, hier zu urteilen und zu unterteilen; viel lieber ließ man sich von der Undine am Klavier in diese Flut einfach hineinziehen. Das kritische Bewusstsein ging genussvoll baden. Ganz wie der Dichter sagt: Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm. Da war’s um ihn geschehn.
Die zweite Konzerthälfte bildete zu dieser Verflüssigung aller Kategorien und Konturen den denkbar größten Kontrast. Mit Johannes Brahms’ Klaviersonate Nr. 2 fis-Moll hatte sich Grimaud ein sperriges, zerklüftetes, von jähen Brüchen durchzogenes Werk ausgesucht. Darüber hinaus wimmelt es in diesem oktavendonnernden Klavierkraftakt vor Vortragsbezeichnungen, die eine trockene, beinahe perkussive Artikulation verlangen; stellenweise könnte man meinen, Brahms habe Bartók und Prokofjew um 60 Jahre vorweggenommen. Manche dieser Kanten schliff Grimaud durch Pedalgebrauch zwar ab, doch zeigte sich spätestens hier: Sie kann nicht nur sensibel, sie kann auch richtig hinlangen.
Es werden wohl ihre Eigenwilligkeit und die inneren Gegensätze sein, die Hélène Grimaud zu dieser sonst selten zu hörenden Sonate hingezogen haben. Denn der schrullige Brahms verlegt den Höhepunkt seines Stücks an die unwahrscheinlichste Stelle: in das Trio des Scherzos. Hier schält sich aus den vielen scharfen Attacken und vergeblichen Anläufen zu einer Kantilene schließlich eine weit ausgreifende, in vollgriffigen Akkorden gesetzte Melodie heraus. Mit jenem voluminösen, kraftvollen Forte, in dem die energische Seite ihres heiklen Wesens zum Klingen kommt, zelebrierte die Grimaud diesen lyrischen Höhepunkt.