Ilja Stephan Musikpublizist

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András Schiff - Fingerballett zu Bachs Musik
in: Hamburger Abendblatt, 01.06.2015

Welcher Pianist könnte es wagen, nach einer langen Gipfeltour durch das Hochgebirge des Bachschen Klavierwerkes als Zugabe eine komplette Beethoven-Sonate zu spielen? Und zwar eine jener letzten drei, die die Aura des Schwierigen, Mystischen umgibt. Von den vielen Wundern, die es beim Solo-Recital von András Schiff vergangenen Freitag in der Laeiszhalle zu bestaunen gab, war dies wohl das größte: Dass Schiff nach zweieinhalb Stunden und einer grandiosen Interpretation der Goldberg-Variationen noch Luft nach oben sah. Denn statt bloße Zugabe zu sein, erwies sich Beethovens Sonate op. 109 mit ihrem Variationsfinale vielmehr als Pointe und Schlusspunkt eines wohlkalkulierten Gesamtprogramms.

Wer den Zugang des Pianisten Schiff zu Bach verstehen will, sollte dem Lehrer Schiff beim Unterrichten zuhören. In einer seiner Meisterkurse, an denen man dank des Internets auch virtuell teilhaben kann, erschließt Schiff das Wesen barocker Tänze. Alle zierlichen Schritte und neckischen Hüpfer dieser Tänze gingen in die Höhe, erläutert der Meister da. Der barocke Tänzer brauche den Boden nicht, um auf ihm zu ruhen, sondern um sich von ihm abzustoßen. Ganz ähnlich tanzen Schiffs Finger über die Tasten. Sie federn mehr über die Klaviatur als dass sie gleiten und erzeugen dabei ein Mosaik aus delikat artikulierten, kurzen und prägnanten Impulsen.

Im Italienischen Konzert BWV 971 und der Partita h-Moll BWV 831 erreichte Schiff so trotz eines sehr zügigen Tempos eine kaum zu übertreffende Transparenz und Eleganz. Selbst die Noten eines cantabile klingen bei ihm wie die Perlen auf einer Schnur. Allerdings haben solche Tugenden auch ihre Kehrseite, und so lechzte man als Hörer nach einer halben Stunde kristalliner Klarheit geradezu nach ein wenig nahtlosem Legato und einem Hauch von flächigem, vollem Wohlklang. Doch von diesen Facetten seiner Kunst lies der Pedalasket Schiff lediglich in einer Bourreé aus BWV 831 schon etwas aufblitzen.

In den Goldberg-Variationen kam zum kapriziösen Finger-Ballett fürs Erste das Element der motorischen Vertracktheit hinzu. So hanebüchen sind die Überschläge der Hände, zu denen das Spiel auf einer Klaviatur den Pianisten nötigt, dass man schon vom Zuschauen einen Knoten in die Windungen des Bewegungszentrums bekam. Sir András aber schien es Spaß zu machen. Mit einer Miene als hätte er gerade einen schelmischen Witz erzählt ließ Schiff nach einer langen Kunstpause die pompöse Variation 16 die Stille verscheuchen, um sodann im zweiten Teil der Goldberg-Variationen nun mit immer größerer Freiheit der Gestaltungsmittel die emotionalen Abgründe der Variation 25 auszuloten oder das impressionistische Bewegungsspiel der Variationen 28 und 29 zum Klingen zu bringen.

Als er sich schließlich mit der lakonischen Auskunft „Kein Bach“ zur Zugabe wieder ans Klavier setzte, war aus Schiffs Körpersprache alles Manierierte und Gezierte längst geschwunden. Mit Beethoven spielte er sich und seine Hörer nun endgültig in Trance. In Beethovens Musik finden sich die gegensätzlichsten Emotionen und Charaktere auf engstem Raum, sie spannt den Bogen vom Brachialen und Mutwilligen über das Zarte und Innige bis zur Auflösung aller festen Gestalten in reinen Klang und Licht in den letzten Variationen des Finales. Und Schiff, aus dessen ganzem Habitus sonst stets der total kontrollierte Ästhet zu sprechen scheint, absolvierte nun beinahe selbstvergessen, so als hätte er sich selbst ganz in Musik verwandelt, diese letzte, alles erklärende und zusammenfassende Station seiner dreistündigen Reise.