Ilja Stephan Musikpublizist

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Daniel Barenboim - Barenboim kratzt am eigenen Mythos
in: Hamburger Abendblatt, 11.12.2013

Daniel Barenboim verkörpert einen Traum. Den Traum vom Souverän im Reich der Musik, der einen Großteil der europäischen Konzertliteratur in den Schatzkammern seines Gedächtnisses gehortet hat und bei seinen Auftritten in vollen Zügen Musik verschenken und sich in Tönen verströmen kann. So sehen ihn seine Fans, so sieht er sich wohl auch selber.

Wie Barenboims Recital mit Schubert-Sonaten am Montag in der Laeiszhalle erwies, ist aber nicht einmal ein solcher Jahrhundertkünstler immer reich genug für diese Form fürstlicher Generosität. Sein Name verschafft ihm Kredit, und den hatte er nötig. Denn einem Geringen als Daniel Barenboim hätte man das Maß an technischer und interpretatorischer Nachlässigkeit, das er sich an diesem Abend leistete, schwerlich verziehen. Allzu sehr überwogen beim Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen Grandezza und Wurstigkeit die Fehltritte.

Ein Barenboim setzt sich ohne viel Aufhebens ans Klavier und beginnt umstandslos zu spielen noch bevor im Publikum überhaupt Ruhe eingekehrt ist. Dass er dabei gleich die ersten Noten von Schuberts A-Dur-Sonate D 664 leicht verstolperte blieb so fast unbemerkt, war aber symptomatisch für den ganzen Abend. Immer wieder ließ Barenboim kurze Bruchstücke eines melodischen Zusammenhangs in unartikuliertem Gemurmel verschwinden, dann deckte das Pedal gnädig die Aussetzer der Finger und des Gedächtnisses zu.

In der a-Moll-Sonate D 845 ersetzte oberflächliche Kraftmeierei die eigentliche Gestaltung. Die Ecksätze ging Barenboim in einem sehr zügigen Tempo an; den „Moderato“ überschriebenen Kopfsatz brachte er so um viele Zwischentöne, vor allem aber um die Zeit und den langen Atem, die diese Musik zu ihrer klanglichen Entfaltung braucht. Das Scherzo forcierte er zum Ende hin sogar dermaßen, dass es ihn zu wütendem Stampfen mit dem Fuß hinriss. Vom gehetzten Finale schließlich, dessen Hauptthema in der linken Hand man unter seiner Begleitung mehr ahnen als hören konnte, blieb kaum mehr übrig als der Eindruck, dass der Pianist nun ganz schnell in die Konzertpause wollte.

Eine Ahnung von dem, was Barenboim an guten Tagen zu geben vermag, erhaschte man vor allem in den langsamen Sätzen. Denn es gibt sicher größere Tugenden als Korrektheit; falsche Noten und manuelle Unzulänglichkeiten verzeiht man für eine starke Interpretation. Im zweiten Satz der D-Dur-Sonate D 850 ließ Barenboim aufscheinen, was es heißen kann, wenn einer wie er aus der Überfülle von sechs Jahrzehnten Bühnenerfahrung schöpfend nicht nur einen Notentext aufführt, sondern sich dem Moment überlässt und – wenn auch eigenwillig und bisweilen willkürlich – Musik im Akt des Spielens neu schafft. In solchen geglückten Augenblicken rentierte sich das volle Risiko, dass Barenboim offenbar immer geht.

Der Begeisterung seines Publikums taten Barenboims manuelle Schwächen keinen Abbruch. Sein Mythos überstrahlt solche Einwände noch immer. Eben deshalb hinterlässt ein solcher Abend beim Rezensenten vor allem Fragen: Darf einer wirklich so schludern, weil er „der Barenboim“ ist? Von manchem Youngster kann man heute sicher bessere Schubertinterpretationen hören; doch welchem jungen Pianisten bräche ein solches Konzert nicht das Genick? Und wenn nicht „Barenboim“ auf dem Plakat gestanden und man nicht gewusst hätte, wer da spielt, hätte es sich rein musikalisch wirklich gelohnt?