Ilja Stephan Musikpublizist

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Grigory Sokolov - Wie in Trance
in: Hamburger Abendblatt, 08.03.2017

Woran erkennt man eine Musikstadt? Vielleicht daran, dass es sich beim Publikum herumgesprochen hat, dass einer wie Grigory Sokolov es nie unter fünf Zugaben macht. Jede Note davon ist eine Kostbarkeit. Wer da vorzeitig an die Garderobe stürmt, wie eine beträchtliche Zahl von Besuchern beim Gastspiel des Pianisten am Montag in der Laeiszhalle, verschenkt leichtfertig ein Vermögen.

Zugegeben, dem St. Petersburger zuzuhören ist anstrengend, gerade dann, wenn er das Einfachste vom Einfachen spielt. Mozarts „Sonata facile“ stand am Anfang eines riesigen Bogens, den, wäre es nach dem Meister gegangen, wohl am besten gar keine Pause und kein Applaus unterbrochen hätten. Denn wer Sokolov eine Weile lang aufmerksam zuhört, bei dem stellt sich fast zwangsläufig eine Form von Konzentration ein, fast könnte man von Trance sprechen, die kein Abreißen des Fadens duldet. Zu guter Letzt fürchtet man dann fast, dass die Musik aufhört und der Erste „Bravo“ brüllt.

An diesem Abend führte der Bogen von Mozarts „Sonata facile“ über die Fantasie und Sonate c-Moll bis zu Beethovens Sonaten op. 90 und 111 und löste sich schließlich in dem obligatorischen Strauß von Zugaben auf. Wie der Pianist seine Hörer zu dieser Form äußerster Gespanntheit führt, bleibt sein Geheimnis. Aber es muss etwas mit der Feinheit der Abstufungen zu tun haben, die ihm zu Gebote stehen. Ein Sokolov kennt endlose Nuancen von „piano“. Wenn dann tatsächlich das erste „forte“ eintritt – an diesem Abend sparte er sich das bis zum Finale der „Sonata facile“ auf –, trifft es einen fast wie ein Schlag.

Doch Sokolovs Dynamik-Skala ist nach oben offen. In Mozarts dramatischen Mollstücken spielte er den Kontrast der Lautstärken voll aus. Wenn Sokolov will, entfaltet sein Flügel Resonanzen wie ein kleines Orchester. Es gibt Melodienoten, die er mit einer Wurfbewegung des Unterarms produziert, und die geradezu schmerzlich brillant klingen. Und es gibt Abstiege ins Bassregister, die trotz sichtbarer Kraftentfaltung durchhörbar und transparent bleiben. Artikuliertheit, selbst in den extremen Registern, ist eine von Sokolovs vornehmsten Tugenden.

Aber auch seine Rhythmik kennt unendlich viele Zwischenstufen. Die viel gelobten Triller künden wie kleine Stromstöße von der Spannung, unter der das ganze System steht. Unmöglich, vorherzusagen wie er die einzelnen Akkorde von Beethovens Arietta um eine Winzigkeit verzögern würde. Im Ergebnis hat so jede Note bei Sokolov ihr eigenes Gewicht, ihre Schattierung und ihren Platz im großen Ganzen. Wer da als Hörer nicht voll konzentriert ist, kann in der Tat seinen Hut nehmen.