Ilja Stephan Musikpublizist

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Arp Schnitger - Alle Register gezogen
Arp-Schnitger-Orgeln sollen UNESCO Weltkulturerbe werden
in: Welt am Sonntag, 22. Juni 2014, Hamburg-Teil.

Was Stradivari für den Geigenbau ist, das ist sein Zeitgenosse Arp Schnitger für den Orgelbau: ein Synonym für bis heute unübertroffene Vollendung. Während man aber in Cremona aus Stradivaris Ruhm kräftig Kapital schlägt, nimmt man an Schnitgers Hauptwirkungsstätte, in Hamburg, auch von diesem Teil der eigenen Musikgeschichte kaum Notiz. Die Werbetrommel rühren andere. So hat sich die in Brake an der Weser ansässige Arp-Schnitger-Gesellschaft zum Ziel gesetzt, bis zu dessen 300. Todesjahr 2019 alle erhaltenen Schnitger-Orgeln zum UNESCO-Weltkulturerbe erklären zu lassen.

Der wichtigste Unterstützer dieses Vorhabens sitzt in Bremen. Seit 2010 findet dort im Rahmen des Musikfestes Bremen alljährlich ein Arp-Schnitger-Festival statt; seit zwei Jahren gibt es außerdem einen Arp-Schnitger-Orgelwettbewerb. In diesem Jahr erreichen die Bremer Initiativen nun erstmals auch den Ort, an dem der „Stradivarius des Orgelbaus“ lebte und arbeitete: Am 30. und 31. August spielen die Preisträger des Schnitger-Wettbewerbes in St. Katharinen und auf der Schnitger-Orgel in St. Jacobi. Am 14. September endet ebendort das 5. Arp-Schnitger-Festival mit einer „großen Hamburgischen Kirchenmusik“.

Thomas Albert, Intendant des Musikfestes Bremen und zusammen mit dem Schnitger-Experten Harald Vogel die treibende Kraft hinter der Welterbe-Bewerbung, weiß sehr genau, welche Register zu ziehen sind, um Aufmerksamkeit und Unterstützung für das Projekt zu mobilisieren. Neben Schnitger-Festival und -Wettbewerb initiierte er ein Schnitger-Mahl, bei dem u.a. der Titel eines „Schnitger-Botschafters“ verliehen wird, ein Schnitger-Ensemble für stilgerechte Aufführungen und einen eigenen Trägerverein Arp-Schnitger-Kulturerbe e.V.

Weniger Aktivität wäre sicher zu wenig, denn das Schnitger-Weltkultuerbe-Projekt sprengt in vielerlei Hinsicht den Rahmen des Üblichen. Der Hamburger Orgelbauer war schon zu Lebzeiten eine europäische Größe, der seine Orgeln bis nach Moskau im Osten und Portugal im Westen exportierte. Von Portugal aus gelangte ein Instrument später sogar bis nach Südamerika. Die virtuelle Schnitger-Orgellandschaft verteilt sich heute nicht nur über mehrere Bundesländer, sondern über Deutschland, die Niederlande, Portugal und Brasilien, von Pellworm im Norden bis Mariana in den Subtropen. Wer Schnitgers Erbe der UNESCO als Kulturerbe vorschlagen will, muss also lokal, regional, national und international agieren, um eine schier unübersehbare Vielzahl von Interessen unter einen Hut zu bekommen.

Eine Orgeltour übers platte Land mit Thomas Albert und Harald Vogel lässt ahnen, wie die Basisarbeit für hochfliegende Welterbeambitionen aussieht: Das Vorzeigestück unter den Schnitger-Orgeln steht heute in dem kleinen Dorf Cappel an der Nordseeküste. Dorthin hatten die Hamburger es 1816 nach dem Abriss der St. Johannis-Klosterkirche verscherbelt. Seither prunkt das mit goldenem Zierrat reich geschmückte Prachtinstrument in einer denkbar schlichten Dorfkirche.

„Lassen Sie das Auto ruhig offen, hier klaut keiner was“, begrüßt ein Kirchenvorstand die Reisenden in Sachen Schnitger-Orgel. Trotzdem achten die Cappeler sehr genau auf das Ihre. Denn selbst die eigene Landeskirche hätte schon versucht, ihnen ihren Schatz abzuschwatzen, um ihn an repräsentativerem Ort wieder aufzustellen. Und auch die Hamburger hätten „ihre“ Orgel nur allzu gern zurückhaben wollen. Doch die Cappeler wissen längst, was sie an ihrem Instrument haben, und wuchern mit diesem Pfund. Zur Kirche führt die „Arp-Schnitger-Straße“; und neben dem Gotteshaus steht das Organistenhaus, in dem die Studenten untergebracht sind, die hier an einer echten Barockorgel die entsprechende Spielpraxis erlernen. Damit sind die angehenden Organisten in bester Gesellschaft, denn dieselben Manuale, die sie heute bespielen, hatten seinerzeit wohl schon Reincken, Bach und Händel unter den Fingern.

Für den Alte-Musik-Praktiker Thomas Albert kommt hier neben der internationalen Dimension noch ein weiterer besonderer Punkt des Schnitger-Kulturerbes zum Tragen: Orgeln erfüllen ihre Bestimmung erst, wenn kundige Menschen sie zum Klingen bringen. Das Weltkulturerbe, das Albert und seine Mitstreiter schützen lassen wollen, besteht also aus „Hardware und Software“, aus den Orgeln selbst, und dem immateriellen Wissen, wie man auf ihnen das Repertoire von der Renaissance bis zum Hochbarock stilecht zum Leben erweckt.

Für das Projekt Schnitger-Weltkulturerbe scheint die Zeit heute einerseits so günstig und andererseits so dringlich wie nie zuvor. Günstig, weil die Erschließung dieses Erbes weit fortgeschritten ist: Fast alle Orgeln sind sachgerecht restauriert, ihr Klang ist in Tonaufnahmen dokumentiert, und die Spielpraxis wird in eigenen Studiengängen vermittelt. Warum der Schutz der Instrumente so dringlich ist, verraten dagegen Ventilatoren hinter den Orgel-Gehäusen. Sie sorgen für einen ununterbrochenen Luftstrom um die Instrumente im Kampf gegen deren ärgste Feinde: Schimmel und Korrosion. Hatten vor wenigen Jahrzehnten neu eingebaute Heizungsanlagen die alten Instrumente durch Austrocknung noch fast ruiniert, müssen die Küster heute kräftig heizen, damit ihre Königin der Instrumente nicht verrottet. Für Orgelkenner ist der Klimawandel längst Realität.