gekürzt abgedruckt in: "Welt am Sonntag" Hamburg-Teil, vom 20.4.2008
Durch eine unzureichende finanzielle Förderung begrenzt Deutschland seine Möglichkeiten im kulturellen Bereich, warnt Christoph von Dohnányi, Chef der NDR-Sinfoniker. Der Bau der Elbphilharmonie ist für ihn nur dann sinnvoll, wenn das Konzerthaus mit einem großzügigen Etat ausgestattet wird. Am Dienstag gastiert Christoph von Dohnányi mit dem Philharmonia Orchestra London in der Laeiszhalle. Im Gespräch mit der "Welt am Sonntag" vergleicht der 78-Jährige, der auch Chefdirigent des NDR Sinfonieorchester in Hamburg ist, das Musikleben in den beiden Metropolen an der Themse und der Elbe.
Mit dieser Tournee verabschieden Sie sich als Chefdirigent des Philharmonia Orchestra London. An welchen Erfahrungen der vergangenen elf Jahre hängt Ihr Herz heute am meisten?
Christoph von Dohnányi: Das Herz hängt an einer unglaublich freundschaftlichen und guten Atmosphäre - deshalb mache ich als lifetime Ehrendirigent ja auch weiter. Das sind alles hervorragende Musiker, die, wie sie wissen, in England sehr, sehr hart arbeiten müssen. Das bindet enorm, und das mache ich auch mit. Aber nachdem ich den Chefposten beim NDR annahm, habe ich damals gesagt, ihr müsst euch jemanden suchen, der das permanent machen kann. Nach über zehn Jahren ist es bei einem solchen Orchester auch richtig, dass man wechselt.
Philharmonia wird von den Musikern selbst getragen. Wie funktioniert das praktisch?
Dohnányi: Sie haben eine sehr effiziente Organisation und kommen mit wenig Management aus, aber für die Musiker ist es ein hartes Leben. Das Orchester ist total selbstverwaltet, es engagiert den Chefdirigenten, das Management und durch das Management indirekt auch die Gastdirigenten und Solisten. Es bestimmt einen Chairman und einen Vize-Chairman, die zusammen mit dem Management alles verwalten und organisieren. Und es entfaltet eminente Aktivitäten im Fundraising. Die brauchen Geld, das in England nicht vom Staat kommt. Dafür gibt es eine große Fantasie, sehr viel Improvisation und manchmal weit über die normalen Kräfte hinausgehende Anforderungen.
Wie lebt es sich als Chefdirigent, wenn man von seinen Musiker selbst engagiert wird?
Dohnányi: Wenn es zur Musik kommt, geht das meistens sehr gut. Wir haben Fälle gehabt, wo ich sagen musste "Kinder, in dem Raum möchte ich wirklich nicht noch mal probieren müssen." London ist furchtbar in der Beziehung. Man fährt anderthalb Stunden irgendwo hin, probiert ein paar Stunden, und fährt dann mitten in der Rushhour zwei Stunden zurück. Wenn dann der Saal nicht befriedigend ist, sagt man schon mal: "Das bitte nicht mehr." Aber man kann mit den Musikern wunderbar direkt und freundschaftlich reden, ohne dass jemand beleidigt ist, wenn man etwas kritisiert - und man selbst ist auch nicht beleidigt. Es ist eine sehr schöne Arbeitsatmosphäre.
Sind Ihre Musiker Freiberufler?
Dohnányi: Die Musiker sind Member of the Philharmonia Orchestra, werden aber pro Stunde, bzw. pro Dienst bezahlt.
London ist berühmt für seine kulturelle Szene. Was macht die Musik- und Kulturstadt London aus?
Dohnányi: Das sind diese Strukturen. Sie sehen es in den Theatern, Sie sehen es in den kleineren musikalischen Ensembles. So etwas wie Wigmore Hall, ein wunderbarer Saal, mit seinen fantastischen Kammermusik- und Liederabenden hat sonst kaum eine Stadt. Sie haben fünf große Orchester, die nebeneinander arbeiten. Sie haben die kleineren Orchester wie die London Sinfonietta. Sie haben großartige Chöre wie die London Voices - ein fantastischer Chor, der "Moses und Aaron" innerhalb von sieben, acht Proben einstudieren kann. Aber, wenn man mal kritisch rangehen will, muss man sich sehr hüten, dass es nicht zu sehr von der Hand in den Mund geht.
Philharmonia hat z.B. ein eigenes Radio und entfaltet im Bereich der Musikvermittlung Aktivitäten, von denen man hier nur träumen kann. Wie kriegen die das hin, wenn alles nur von der "Hand in den Mund" geht?
Dohnányi: Man kann die Strukturen in Ländern nicht ad hoc ändern. Sie können nicht plötzlich sagen, die Deutschen müssen genauso arbeiten wie die Engländer. Das würde nicht funktionieren. Ähnlich wie die Engländer mit unseren Mechanismen nicht umgehen könnten. Das ist eine sehr individuelle Art, die die Engländer auszeichnet. Der Mann, der die Medien dort macht, ist ein junger Bursche Mitte zwanzig. Ein genialischer Kerl, der das alles allein auf die Reihe bringt. Solchen Leuten gibt man dort große Chancen. Es gibt Möglichkeiten des Quereinsteigens. Es kann sein, dass einer eigentlich Theologie studiert hat, und plötzlich kommt er und macht so etwas. Die Lebendigkeit der Struktur ist dort sehr groß. Aber, die Orchester müssen auch einfach so arbeiten, weil sie an die Zukunft denken müssen.
Trotz Geldnot leistet man sich bei Philharmonia eine eigene Konzertreihe mit Musik unserer Zeit und eine große Messiaen-Retrospektive. Hat man dort einfach mehr Mut?
Dohnányi: Bei NDR gibt es auch eine Reihe mit neuer Musik und unterschiedliche Abos dieser Art. Aber hier muss eben alles sehr solide finanziert sein. Das hält manchmal ähnliche Planungen auf. In England kann es durchaus passieren, dass jemand sagt "Hupps, jetzt ist das Geld zuende." Und dann bittet man irgend jemanden, es springt irgendeiner ein. Und es gibt eben auch Situationen, wo die Musiker auf ihr Geld wochenlang warten. Keiner würde das machen, wenn es nicht aus Liebe zur Musik geschähe. Ein Geschäft ist es nicht. Die Existenzgarantie ist sehr viel weniger vorhanden als in unserem Land. Wenn ein Musiker z.B. einen Unfall hat, dann gibt es einen Fonds, bei dem das Orchester für ihn einsteht. Die machen das aus eigener Kasse. Es ist eine sehr andere Form von Leben und andere Form, an die Kunst heranzugehen. Aber, ich sage es immer wieder, man darf auch das subventionierte Kulturleben nicht unterschätzen in seinen Möglichkeiten.
Mit Jeffrey Tate ist jetzt ein guter Freund von ihnen aus London Chefdirigent des zweiten Hamburger Orchesters geworden. Werden die Orchester also in Zukunft mehr zusammenarbeiten?
Dohnányi: Was wollen sie da zusammenarbeiten? Man muss schon horchen, was die anderen machen. Ich würde keinen großen Mahlerzyklus machen, wenn Frau Young oder Jeffrey das auch tun. Aber sonst sind alle Betriebe so mit sich beschäftigt, dass da nicht viel Kooperation kommt. Außer, dass man mal eine spektakuläre Sache machen könnte: Vielleicht finden wir ja einen Weg, dass Frau Young, Jeffrey und ich Stockhausens "Gruppen" für drei Orchester machen. Wir haben in der Laeiszhalle eine eindeutige Begrenzung, es gibt große Werke, die wir dort nicht spielen können. Gerade solche des auslaufenden 19. Jahrhunderts und aus unserer Zeit. "Gruppen" z.B. geht eindeutig nicht. Deshalb habe ich dieses Werk auch immer erwähnt und erwähne es weiter, weil ich Sorge habe, dass so etwas vergessen werden könnte in der neuen Halle. Wir sollten darauf achten, dass die neue Halle so gebaut wird, dass man gewisse Stücke machen kann. Eine vernünftige Jacobsleiter z.B. können sie in der Laeiszhalle nicht aufführen.
In London ist eine Geigerin wie Midori im Moment Artist in Residence mit acht Konzerten, Videokonferenzen und Workshops. Bei uns ist sie höchstens für einen Tag auf der Durchreise. In Hamburg scheint das Bewusstsein dafür zu fehlen, was eigentlich alles möglich wäre.
Dohnányi: Da würde ich ihnen nicht total widersprechen, aber es sind total andere Umstände. Hamburg ist nicht
London. Das Publikum, das Hamburg zur Verfügung steht, wird immer anders bedient werden müssen als das in London. Hamburg muss eine eigene Form finden, die das hiesige Kunstleben vitalisiert. Das hat es in Weimar, München oder früher mal in Mannheim gegeben. In vielen Belangen würden die Engländer sich die Finger danach schlecken, wenn sie im kulturellen Bereich so leben könnten wie wir. Es ist ja etwas Wunderbares an unserem Land, dass sie nur hundert Kilometer fahren müssen, um ein anderes Bild eines potenziell fantastischen kulturellen Lebens kennen lernen zu können. Ich glaube aber eines, und das sage ich immer wieder: Deutschland limitiert seine kulturellen Möglichkeiten dadurch, dass halbherzig investiert wird. Halbherzig. Das ist so, als ob sie im Badezimmer die Installation einrichten, aber kein Waschbecken und keine Toilette. Meinem Bruder habe ich immer gesagt: "Nimm Kultur als Naturkatastrophe, dafür ist immer Geld da." Wir haben in Deutschland in der Provinz die schönste kleinen Häuser stehen. Es ist doch sinnlos, die so zu beschneiden, dass die nichts mehr machen können, das stark genug wäre, um echten künstlerischen Eindruck zu hinterlassen. Nur die Gebäude zu erhalten, kann ja wohl nicht das Ziel sein.
Um es konkreter zu machen: Die Stadt Hamburg hat zwar ca. 120 Millionen - Tendenz steigend - für den Bau eines neuen Hauses, aber nur einen sehr bescheidenen Etat für die Musik, die darin stattfinden soll.
Dohnányi: Das ist aber überall so. Immer wieder warne ich vor diesen Dingen. Das Entscheidende ist die Machbarkeit. Es hat keinen Sinn, ein großes Haus zu bauen und dann kein Ensemble zu haben, dass sie bezahlen können. Es hat keinen Sinn, ein Opern- oder Konzerthaus zu bauen und am Schluss zu sagen, ich kann die Berliner Philharmoniker nicht bezahlen, weil das Geld zu knapp ist.
Unter den Veranstaltern und Intendanten, die sich in letzter Zeit dazu geäußert haben, war keiner, der Hamburgs Orchester für international konkurrenzfähig hält.
Dohnányi: Da irren die sich. Irren sich total. Ich kenne alle internationalen Orchester von Bedeutung. Alle. Ich dirigiere sie immer wieder und weiß, dass das NDR Sinfonieorchester da absolut mitspielen kann. Das angeblich nicht vorhandene 1a-Orchester bezieht sich auf die Verkaufbarkeit. 1a, das sind, was die Verkaufsfähigkeit angeht Berlin und Wien, z.B. Die großen Labels. Das NDR Sinfonieorchester ist ein sehr gutes Orchester und kann hervorragend spielen. Dass wir, was den Marktwert angeht, noch viel Arbeit vor uns haben, ist uns allen durchaus klar. Die Dinge hier zu verwechseln ist aber absoluter Mumpitz. Wo wäre denn da die neue Musik und deren "Marktwert" einzuordnen. Da sind sich der Intendant der Elbphilharmonie und ich völlig einig. Wenn man versucht, das bedeutende symphonische Repertoire auf- und auszubauen, mag das der eine oder - wahrscheinlich nur - der andere für zu konservativ halten. Ich betrachte diese Arbeit aber als eine sehr wesentliche Voraussetzung für ein erstklassiges Sinfonieorchester. Wer unsere Konzerte hier in Hamburg, in New York oder auf anderen Tourneen erlebt hat, weiß, dass wir auf dem richtigen Wege sind.