Ilja Stephan Musikpublizist

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"Die wissen noch nichts davon"
Hamburg im November: Neue Musik gebündelt
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik, Januar 2007

Hamburg - Lange Zeit galt die Hansestadt Hamburg in Sachen neuer Musik als "Null im Norden"; in einem 1994 erschienen, gleichnamigen Essay hatte der Publizist Peter Niklas Wilson diese Formel geprägt, und allzu viel Anlass, sie zu revidieren, bestand bis dato nicht. Das letzte große Vorzeigeprojekt in Sachen Gegenwartsmusik, Ingo Metzmachers "hamburger musikfest", wurde 2004 endgültig eingestellt. Viele kleinere Festivals in der freien Szene waren zuvor schon dem Kahlschlag der damaligen Kultursenatorin Dana Horáková zum Opfer gefallen. Und so hat Deutschlands zweitgrößte Stadt seit gut zwei Jahren gar kein Festival für neue Musik mehr vorzuweisen.

Dafür aber hat man in der Hansestadt umso größere Pläne. Seit die Idee zu einem rund 240 Millionen Euro teuren neuen Konzertsaal immer mehr Gestalt annimmt, hat der Senat die Losung von Hamburg als "Musikmetropole" ausgegeben. Dazu würde sicher auch eine rege Szene für neue, improvisierte und experimentelle Musik gehören, doch ist die bei einem städtischen Förderetat von EUR 35 000 für die freie Szene schwerlich zu haben. Wenn sich im November 2006 nun doch wieder Festivalaktivitäten regten, so verdankt sich dies vor allem den Initiativen von Einzelpersonen und dem Geld großer Stiftungen, die im reichen Hamburg einen Teil der Lücken füllen, die die Kürzung der städtischen Mittel hinterlassen hat.

Ein Multimediakongress, eine Musikmesse, drei Festivals und zwei Komponistenportraits fanden u.a. im November statt - und man hätte sich des ungewohnt reichen Angebots freuen können, wäre nicht vieles auf dieselben Termine gelegt worden. Die Hochschule für Musik und Theater organisierte vom 2. bis 4. November einen hochkarätig besetzen Kongress "Connecting Media" samt einiger Konzerte, bei dem sich Laptopmusiker und Multimediakünstler über die neusten Entwicklungen auf diesem Feld informieren konnten. Leider aber fand parallel zum Kongress auch die jährliche Messe des Verbandes für aktuelle Musik Hamburg (vamh) statt, auf der sich tummelte, wer in der freien Szene der Hansestadt an Computermusik und Artverwandtem interessiert ist.

Eine sinnvolle Bündelung der Kräfte stellte die vom Landesmusikrat und dem Institut für kulturelle Innovationsforschung (IKI) veranstaltete "Ensembliana" am 11. November dar. Parallel zur Jahrestagung der Gesellschaft für neue Musik trafen sich hier (fast) alle Hamburger Ensembles für neue Musik zu einer gemeinsamen Leistungsschau. Ein Nacht lang waren die von Minimal Music bis experimentellem Musiktheater reichenden verschiedenen Ansätze und Ästhetiken der in Hamburg ansässigen Ensemble zu erleben, darunter solche, die selten einmal live zu hören sind wie "Chaosma" oder "WireWorks" sowie das erst im Juli diesen Jahres mit Mitteln der ZEIT-Stiftung ins Leben gerufene "ensemble 21".
 
Im Vorfeld der "Ensembliana" wurde außerdem eine Studie des IKI vorgestellt, das die Situation aller 184 Ensembles für neue Musik deutschlandweit unter die Lupe genommen hatte. Hier zeigte sich, dass allenfalls 4 oder 5 Ensembles so professionalisiert sind, dass sie von ihren Einnahmen leben können, wogegen ca. zwei Drittel sich selbst um Management und Pressearbeit kümmern und für 2 bis 19 Konzerte im Jahr einen Etat von maximal 20 000 EUR zur Verfügung haben. Und auch das eklatante Nord-Süd-Gefälle wurde mit Zahlen belegt, wenn man etwa die 4 von der Studie erfassten Hamburger Ensembles (und je eines in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern) mit den 16 Kölner, 11 Stuttgarter oder 9 Freiburger Ensembles vergleicht.

"Hamburg von außen Impulse zuführen" war denn auch das erklärte Rezept des Berliners Thomas Schmölz, der mit Mitteln der Bundeskulturstiftung in diesem Jahr die "hamburger klangwerktage" ins Leben gerufen hat. Sinnvoll und nützlich war dabei vor allem die Grundkonzeption, Uraufführungen von acht jungen Komponisten aus Europa, den USA und Asien zu bringen, da der nicht-arrivierte Komponistennachwuchs in der Hansestadt seit Jahren schon kein Forum mehr hatte. Doch entsprach der Vielfalt der vertretenen Nationalitäten nicht unbedingt eine ebensolche Pluralität der Ansätze. Aus dem von Musikern der Internationalen Ensemble Modern Akademie sehr professionell vorgetragenen Programm ragte am ersten Tag einzig die Chinesin Lin Wang heraus, die in ihr Stück "BA YIN" den an Stimmflexionen reichen Gesangsstil und den feinen Sinn für Klangfarbe der traditionellen chinesischen Musik einbrachte.

Leider hatte auch Schmölz sein Festival, dessen beiden öffentlichen Konzerte am 24. und 25. November stattfanden, just in die Mitte zweier weiterer Veranstaltungen platziert: Der Komponisten-Portraits mit Augusta Read Thomas und Toshio Hosokawa im Rudolf-Steiner-Haus und eines freestyle-Festivals der Hamburger Künstlervereinigung "Katarakt", bei dem u.a. der New Yorker Minimal-Altmeister Phill Niblock eingeladen war. Dort fand sich am späteren Abend denn auch ein gänzlich anderes Publikum ein, von Leuten, die auf dem nahegelegenen Kiez eine Tour durch die Clubs machen, und die man kaum zur traditionellen Avantgarde-Klientel rechnen würde. "Hier gibt es ein großes Publikum für neue Musik, die wissen nur noch nichts davon", resümierte der Musikwissenschaftler und Sänger der Band "Jullander" Andi Schoon diese Perspektive der Publikumsentwicklung.
 
Angeschlossen an "klangwerktage" und "Ensembliana" waren mehrere Symposien, bei denen u.a. über die Zukunft der neuen Musik in Hamburg diskutiert wurde. Die wichtigste Zielvorgabe kam dabei von Staatsopern-Dramaturg Christoph Becher, der demnächst als persönlicher Referent dem neu ernannten Generalintendanten Christoph Lieben-Seutter zur Seite stehen wird. Es müsse "jeden Tag mindestens ein Neue-Musik-Konzert in Hamburg" geben, forderte Becher. Und der erste Schritt in diese Richtung wäre sicher eine bessere Selbstorganisation, denn vorerst bleibt das meiste, was sich in der lokalen Szene regt, weit unter der medialen Aufmerksamkeitsschwelle. Davon, dass man es sich schon leisten könnte, am gleichen Termin um das schmale Kontingent der Neue-Musik-Interessierten zu konkurrieren, ganz zu schweigen.